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Wer hat noch nie das Paradies gesehen?31.07.2024





Text und Fotos: Horst E. Wegener


Auch tragen die rund 2500 Sonnenstunden pro Jahr, mit denen der nördlichste Landstrich Italiens, die autonome Region Südtirol – Alto Adige rings um die beiden größten Städte Bozen und Meran für sich wirbt, nicht unerheblich dazu bei, uns automatisch in Urlaubsstimmung zu versetzen: Erst recht in Verbindung mit der verlockenden Aussicht auf einen süffigen Begrüßungs-Cocktail gleich nach der Ankunft im Hotel. Ein Platz in der Sonne mit Blick auf das glasklare Wasser des Meran durchfließenden Flüsschens Passer ist schnell gefunden – es braucht nicht viel, um sich in einem der unzähligen Cafés oder Restaurants auf der ufernahen Promenade wohlzufühlen. Für die allermeisten Urlauber ist es exakt dieses einfache, kleine Glück, das das Geheimnis des beschaulichen Südtiroler Kurortes ausmacht. Hier treffen Kurgäste, Touristen und Einheimische jeden Alters aufeinander, um die mit Händen zu greifende Freude am Leben mit einer guten Portion Gelassenheit vor architektonisch stimmigem Mix aus Belle Epoque-eleganten Prachtbauten, coolen Neuzeit-Glasfassaden im Rücken und beeindruckend aus der Ferne grüßender Bergkulisse zu genießen.
Wer sich nach dem Willkommensdrink die Beine noch ein bisschen vertreten will, steuert am besten eine der vielen Promenaden an: Am Hang des Küchelbergs etwa lässt sichs hoch überm Städtchen herrlich über den Tappeinerweg flanieren – inklusive einer tollen Aussicht auf den Meraner Talkessel bummelt man vorbei an Himalaya-Zedern, Korkeichen, Palmen nebst üppig blühender Pflanzen und Weinreben. Das Kurstädtchen Meran lohnt den Besuch, schon allein, weil es sich in wohl keinem anderen Ort weit und breit schöner spazieren gehen lässt – bei hochsommerlichen Temperaturen entweder auf der Winterpromenade oder im grünen Schatten der gegenüberliegenden Sommerpromenade. Auf der sogenannten Promenade der Poesie schnitten lyrikversonnene Bildungsbürger vor Jahrzehnten schon denkwürdige Rilke-Verse ins Holz der Parkbank, direkt gegenüber eines Mammut-Baums und ein paar Schritte weiter findet man noch ein Dutzend mehr solcher Bänke mit geschnitzten Spruchweisheiten von bekannten Dichtern. Wer sich an der Poesie-Promenade über das Brückengeländer lehnt, entdeckt vielleicht ein paar Kajakfahrer, die wie Lachse über die Stromschwellen des Passerflusses springen – ebenfalls flussaufwärts. Meistens fallen sie kurz darauf wieder etliche Meter zurück, aber man muss trotzdem ein Weilchen stehen bleiben, um ihre Ausdauer zu bewundern. Alsdann lohnt es sich beispielsweise, dem „Sissi-Weg“ zum Schloss Trauttmansdorff zu folgen, das einst einer der Lieblingszufluchtorte der Meran-begeisterten wahren Königin Elisabeth war – und heutzutage sowohl des Touriseums, einer der Geschichte des Reisens gewidmeten Dauerausstellung und seiner weitläufigen Gartenanlage wegen gerühmt wird; 2005 zu Italiens schönstem Garten gekürt, sei einem vor Ort der Aufstieg zur Aussichtsplattform des weltberühmten Architekten Matteo Thun ans Herz gelegt. Einfach dastehen, die Fernsicht genießen!
Gar nicht zu übersehen sind auf scheinbar jedem Hang und Bergrücken errichteten Burgen, Schlösser, Ansitze, die in längst vergangenen Zeiten Wohnsitz reicher Adeliger und wohlhabender Bürger waren oder für repräsentative Zwecke erbaut wurden. Weithin sichtbar und für feindlich gesonnene Zeitgenossen doch allzeit uneinnehmbar thront auf einem Felsvorsprung oberhalb der Stadt Meran und am Rande des Dorfes Tirols Schloss Tirol. Heutzutage beherbergt diese imposante Trutzburg das Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte. „Schloss Tirol war Stamm- und Regierungssitz der Grafen von Tirol“, erläutern einem Museumsführer beim Rundgang durch die Burg. Die Tiroler Machthaber übernahmen ab 1141 den Namen ihres Geschlechts vom Hauptwohnsitz. Mit der Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs erweiterte sich auch das als Tirol bezeichnete Gebiet. Im 13. Jahrhundert wurde das Schloss als Wiege des Landes aufgestockt und erweitert – bis die Burganlage an Bedeutung verlor, da man den Regierungssitz um 1420 nach Innsbruck verlagerte. Schloss Tirol verfiel, wurde geplündert, öffentlich versteigert, zum Steinbruch degradiert. Was Besucher heute bestaunen, ist meist Ergebnis von Restaurierungen der letzten zwei Jahrhunderte. Trotzdem spürt man bei jedem Schritt die Wucht der Vergangenheit.
Zur Freude beileibe nicht nur eines jeden Touristen aus deutschsprachigen Landen wird einem egal ob auf Tafeln und Broschüren, Ortsschildern oder Speisekarten schlichtweg alles in Italiens nördlichster Provinz sowohl in Deutsch und Italienisch präsentiert. Es gibt noch eine dritte Sprache, Ladinisch. Hintergrund des mehrsprachigen Miteinanders ist die wechselvolle Geschichte, auf die Südtirol zurückblickt. Vorm Ersten Weltkrieg gehörte die Region zu Österreich, wurde 1919 als Kriegsbeute Italien zugesprochen – was in einen Exodus der deutschsprachigen Bevölkerung gen Norden unter den Nazis einmündete; Stichwort „Option“. Nach dem Zweiten Weltkrieg rang das „Alto Adige“, so Südtirols italienscher Name, zusehends mehr um Eigenständigkeit, besann man sich vor Ort seiner früheren Traditionen und der kulturellen Wurzeln, wurde auf Anerkennung gepocht. 1972 trat der mühsam erkämpfte Autonomiestatus in Kraft – wobei es weitere 20 Jahre dauern sollte, bis dieser endgültig etabliert war.
Südtirol ist wie Trient, das Aosta-Tal, Friaul-Julisch Venetien, Sardinien und Sizilien autonom und genießt in Italien Sonderrechte. 90 Prozent der Steuern, die auf ihrem Gebiet erhoben werden, stehen der Provinz zu. Doch weder Silvio Berlusconi noch Mario Monti oder die nachfolgenden Regierungen in Rom hielten sich groß daran, behielten einen immer größeren Teil des Südtiroler Steueraufkommens für sich ein. Zu Beginn der 2010er Jahre waren stolze 1,5 Milliarden Euro aufgehäuft, mit denen Rom bei Bozen in der Kreide stand. Andererseits kletterte die Arbeitslosigkeit auch im Südtirol kontinuierlich, tun sich Bürger über 50 und Jugendliche schwer, eine feste Stelle zu finden. Dennoch regierte gut 75 Jahre lang in Südtirol unangefochten die Südtiroler Volkspartei SVP als die Partei, auf die sich viele Einwohner einigen konnten. Erst das unerwartet schlechte Wahlergebnis von 34,5 Prozent der von Arno Kompatscher angeführten SVP mündete bei den Wahlen im Oktober 2023 in ein Bündnis mit gleich drei Rechtsparteien ein. Man erwartete sich davon Zugeständnisse bei ihren Autonomie-Forderungen – mal seh´n. Dem Südtirolreisenden dürften diese Schattenseiten südlich der Alpen jedoch kaum auffallen. Man wähnt sich im Paradies.

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