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MoX - Neues aus der Hauptstadt: Neukladow Ein Traum von Arkadien an der Havel13.05.2022



Noch heute beklagen Zugezogene entweder, wie abgenabelt vom pulsierenden Großstadtalltag inklusive weit entfernter Arbeitsstätte sie sich vorkämen; andere wiederum schöpfen gerade aus dieser anscheinenden Beschaulichkeit Kraft und Energie. Und über die Fährlinie F10, die jede Stunde vom Hafen gen Wannsee schippert, hat man sogar eine direkte Anbindung an die S-Bahn in Richtung Innenstadt. Betuchte Berliner hatten die einzigartige märkische Landschaft und den besonderen Reiz des dörflichen Charakters schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Man erwarb riesige Areale am Havelufer, um sich darauf eine Sommerfrische planen zu lassen. Begehrte Grundstücke lagen zunächst direkt am Flussufer, das jedoch durch Hochwasser zuweilen stark überflutet wurde. Um dem abzuhelfen, ließen der Baulöwe Robert Guthmann und Bauerngutsbesitzer Ernst Schütze Lastkähne-weise städtischen Müll heranschaffen, aus dem entlang der Uferböschung ein künstlicher Hang aufgeschüttet wurde. Hoch über der Imchenallee oder dem Sakrower Kirchweg entstanden im Nachgang auf diese  Aufschüttungsaktion hochherrschaftliche Anwesen, deren Eigentümer zumeist die Sommermonate in Cladow zubrachten. Im Winter zogen sie wieder in ihre Stadtwohnungen, die nicht weniger komfortabel ausgestattet waren. Unter den Berlinern, die hier ihr Refugium suchten und fanden und deren Villen die Schauseite Kladows von der Havel noch heute bestimmen, tat sich vor allem der Sohn des Fabrikanten Guthmann als kultureller Strippenzieher vor Ort hervor.
Nähert sich die vom Wannsee kommende Fähre dem Kladower Ufer, um dann in den durch die vorgelagerte Insel Imchen geschützten Hafen einzulaufen, wecken prächtige Villen, die vom Rande des Hochplateaus hinter dem Grün der sie umgebenden Park- und Gartenanlagen sichtbar werden, des Besuchers Entdeckerlaune für den Ort und seine Menschen. In gut zehn Minuten Fußweg vom Hafen aus sieht man 15 Meter oberhalb des Flussufers jene Gutsanlage, die sich der Vater des Kulturzampanos Johannes Guthmann bereits 1887 zugelegt hatte: Inmitten des weitläufigen Parks stand schon damals ein Gebäude, das im Volksmund als das Bismarck-Schlösschen bekannt war.
Nach Jahren des häufigen Besitzerwechsels gelangte Anwesen inklusive Park schließlich in die Hände des Zementfabrikanten Robert Guthmann. Dessen Sohn Johannes, der sich als Kunsthistoriker, Schriftsteller und Sammler zum Förderer der schönen Künste in Berlin berufen fühlte, erkor ab 1909 Neucladow zu seinem Lebensmittelpunkt. Zunächst ließ er den renommierten Architekten Paul Schulze-Naumburg das Gutshaus um eine halbrunde, auf Säulen getragene Balkon- und Terrassenanlage ergänzen sowie einen Gartenpavillon, diverse Nebengebäude und straßenseitig zwei Torhäuser nebst Platanenbestandener Allee errichten. Hinsichtlich der Gestaltung des Blumengartens wandte sich Guthmann an den jungen Gartenkünstler und Staudenzüchter Karl Förster. Eine zusätzliche Ausstattung des weitläufigen Landschaftsparks stellte das Naturtheater dar, welches unter Hinzuziehung des Regietitans Max Reinhardt nahe der Parkzufahrt seinen Platz fand. Diese Freilichtbühne diente dem in den 1910er-Jahren etablierten Neucladower Salon als Motor. Zu Gast bei Guthmann waren unter anderem der Schriftsteller Gerhard Hauptmann, die Schauspielerinnen Tilla Durieux, Sarah Bernhardt, Lucie Höflich, der Verleger und Galerist Paul Cassirer, der Pianist Conrad Ansorge, die Maler Max Liebermann und Max Slevogt. Aber auch der Politiker Walter Rathenau, der Architekt Alfred Grenander und der Bildhauer August Gaul zählten zu gern gesehenen Gästen in Neucladow. 1921 musste Johannes Guthmann auf Wunsch des Vaters den real gewordenen „Traum von Arkadien“ aufgeben. Nachdem seine Stiefschwester Mary geheiratet hatte, sollte sie hier ihren Wohnsitz nehmen.  Noch vor Ende der Dekade verkaufte Mary das Gut an die Stadt Berlin.
Es ging danach in Reichsbesitz über und wurde bald darauf in der Zeit des Nationalsozialismus für militärische Zwecke genutzt. Ein Bunker und umfangreiche Barackenanlagen verunzierten große Teile des Gutsparks. Nach dem Krieg übernahm die Arbeiterwohlfahrt das gesamte Areal und betrieb dort ein Erholungsheim für die Generation der "Trümmerfrauen" Berlins. Zwar verlotterten Park  und Gutshaus zusehends, doch 1998 als auf dem Gelände Luxuswohnungen für den Bedarf von vorwiegen Regierungsbeamten in der frisch zur Bundeshauptstadt gekürten Kapitale errichtet werden sollten, verhinderte eine Bürgerinitiative unter Führung des 1985 gegründeten Kulturvereins Kladower Forum e.V. die beabsichtigte Verschandelung der einzigartigen Kulturlandschaft.
Seit 2011 hat es sich die ins Leben gerufene Bürgerstiftung Gutspark Neukladow zur Aufgabe gemacht, die Bauten und den Park als Zeugen bürgerlichen Bau- und Lebenskultur im 19. und 20. Jahrhundert zu erhalten und sie mit neuem Leben zu füllen. Mit 225.000 Euro aus dem Denkmalfond der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung konnten erste Maßnahmen finanziert werden. Als Pächter des Anwesens stand der in Alternativ-Kulturprojekten à la Bar jeder Vernunft oder Tipi am Kanzleramt involvierte Mäzen Hans Achim Grube bereit, der im Gutshaus vom Szenegastronom Bork Melms ein Restaurant mitsamt Cafébetrieb im Außenbereich hochziehen ließ. Draußen werden bei gutem Wetter für bis zu 110 Gäste Tische und Stühle aufgebaut, im Innenbereich  finden bis zu 60 Personen verteilt auf drei Räume Platz. Von der ebenfalls wiederbelebten Guthmann-Akademie werden obendrein die unterschiedlichsten Veranstaltungen im Anwesen sowie draußen durchgeführt – darunter Lesungen, musikalische Sessions, Ausstellungen sowie Kreativ-workshops, bei denen alljährlich ausgewählte Künstler jene Havelblicke auf ihre Leinwände bannen, die vor gut einhundert Jahren schon Plein-Air-Koryphäe Max Slevogt inspirierten. Mit einem mittlerweile bewilligten Ergänzungsetat von 15 Millionen Euro können die nächsten Schritte in Angriff genommen werden: Geplant ist das Gutshaus zur Hochzeits-Location, inklusive Atelierräumlichkeiten und Museumsdependance auszubauen, Café und Restaurant in einen Neubau direkt nebenan zu überführen. Die Wiederherstellung des Försterschen Rosengartens ist in Planung, ebenso die Wiederherstellung der Reinhardtschen Freilichtbühne nahe Torhaus-Entrée und beabsichtigtem Parkplatz. Leider waren viele der altehrwürdigen Platanen rechts und links der Neukladower Allee in unrettbarem Zustand; frisches Grün und neu angelegte Spazierwege im weitläufigen Landschaftspark sowie der entlang des Havelufers überarbeitete Havelradweg lassen Zukünftiges erahnen. Wer sich einen der Caféhausstühle im Gutshausgarten angelt, kann einen fantastischen Fernblick übers Wasser in Richtung Millionärshalbinsel Schwanenwerder genießen. Zum Kaffeeduft und Kuchengenuss umweht uns unweigerlich jener Geist, der Hektik und Schnelllebigkeit lebensnotwendigen Ausgleich bietet. Der Erhalt dieser existentiellen Mischung verbindet Ortsansässige und Besucher gleichermaßen.

Text und Fotos : Horst E. Wegener

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