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Berührt euch!01.10.2020

Text: Eva Tenzer

Vom Baby bis zum Hochbetagten - Körperkontakt fördert das Wohlbefinden in jedem Alter. Die Forschung beginnt zu verstehen, wie wichtig Streicheleinheiten im Alltag sind.

Liebeskummer, Schmerzen, Prüfungsangst - wohl kaum eine schwierige Situation, in der eine sanfte Berührung nicht kleine Wunder wirken könnte. Kinder lassen sich mit einer liebevollen Umarmung wunderbar trösten. Und so mancher Ehezwist löst sich in Nichts auf, sobald einer der Streithähne die Hand nach dem anderen ausstreckt. Aber auch wenn wir nicht gerade leiden, lassen wir uns Berührungen gerne gefallen, selbst von Fremden tut eine Massage gut und hellt die Stimmung auf.
Berührungen zählen zu den beglückendsten Erfahrungen, die wir als Kinder und Erwachsene machen. Der körperliche Kontakt zu anderen Menschen fördert die Entwicklung in allen Alters- und Lebenslagen. Es ist kein unnötiger Schnickschnack gefühlsduseliger Kuschelfans, sondern ein wichtiges Überlebensmittel. Studien haben in den letzten Jahren viele positive Effekte belegt, denn auch Forscher interessiert immer mehr, was Berührungen auslösen. Dieses Thema wird immer wichtiger für unsere zunehmend technisierte und digitalisierte Gesellschaft, in der man sich mit Textnachrichten, Likes und Kommentaren Nähe verschafft, aber immer weniger mit echten Berührungen.
Darüber, was in unserem Gehirn und dem Rest des Körpers passiert, wenn wir einander berühren, haben Psychologen, Mediziner und Hirnforscher in den letzten Jahren viel Interessantes herausgefunden: Bei Umarmungen schüttet der Körper das stresslindernde Hormon Oxytocin aus; gleichzeitig wird das Stresshormon Cortisol vermindert; der Blutdruck sinkt, Ängste und Schmerzen lassen nach. Häufiger Körperkontakt kann das Immunsystem stärken und damit weniger anfällig für Erkältungsviren und andere Infektionen machen. Wer berührt wird, erholt sich zudem schneller von Erkrankungen, wie Studien zeigen.
Dabei spielt das Oxytocin eine Schlüsselrolle. „Zunächst erkannte man nur seine Bedeutung für Geburt und Stillen, inzwischen weiß man aber, dass es auch mit Berührung und Nähe in Zusammenhang steht“, berichtet die schwedische Forscherin Kerstin Unväs Moberg. Berührt zu werden und körperliche Nähe zu erfahren, sind grundlegende Bedürfnisse. Das gilt für Menschen wie für alle anderen Säugetiere auch. In den ersten Lebenstagen kann körperliche Nähe das Überleben sichern. Und das Bedürfnis nach Berührung begleitet uns dann ein Leben lang. Ob Kind oder Erwachsener - wer täglich eine liebevolle Umarmung, ein sanftes Streicheln oder eine wohltuende Massage bekommt, ist glücklicher und gesünder. „Darüber hinaus kann er besser mit anderen kommunizieren und sucht stärker den Kontakt zu anderen Menschen. Berührungen vermitteln Sicherheit und zeigen uns, dass wir jemandem wichtig und wertvoll sind. Sie haben jedoch auch grundlegende neurophysiologische Auswirkungen, die unser Verhalten und unsere Gefühle beeinflussen“, berichtet Moberg.
Berührungen sind ein Teil unseres biologischen Urprogramms. „Neugeborene und Kleinkinder gehen ein, wenn sie nicht genügend Zuwendung und Zärtlichkeit bekommen, egal, wie gut sie ansonsten versorgt werden“, sagt Wissenschaftsautor Werner Bartens. Ohne Berührungen fehlen enge, zuverlässige Bindungen. „Zudem bleibt ihre körperliche Entwicklung zurück, und sie wachsen nicht richtig, wenn sie nicht angefasst werden. Sie verkümmern und sind anfällig für Krankheiten.“ Frühgeborene im Brutkasten legen bei gleicher Nahrung mehr an Gewicht zu, wenn sie regelmäßig massiert werden. Und Säuglinge, die nur selten in den Arm genommen werden, entwickeln sich schlechter. Maria Hernandez–Reif, Entwicklungspsychologin an der Universität Alabama hat beobachtet, dass sich frühgeborene Zwillinge besser entwickeln, wenn sie einander umarmen und beieinander liegen konnten. Für die gesunde Entwicklung von Kindern haben häufige Berührungen also ganz entscheidende Bedeutung. Körperkontakt löst Wohlbefinden aus, wirkt beruhigend und fördert soziale Interaktionen.
Obwohl ein Grundbedürfnis, brauchen Menschen unterschiedlich viel Körperkontakt, die Bandbreite reicht von völlig verschmust bis zurückhaltend. Wie viel Nähe und Zärtlichkeit der Einzelne braucht, hängt von genetischen Faktoren ab, ist also Teil der angeborenen Persönlichkeit, aber auch eine Frage des sozialen Umfelds sowie der Lebensumstände und Erfahrungen, die wir machen.
Eltern kennen das Nähebedürfnis ihrer Kinder in der Regel und stellen sich darauf ein. Nicht zu viel, nicht zu wenig - das richtige Maß zu finden, ist manchmal nicht leicht. Wichtig ist, so raten Experten, Berührungen und Körperkontakt nicht aufzudrängen. Wenn ein Kind gerade nicht in den Arm genommen werden will, sollte man das respektieren. Besser warten, bis es von sich aus Streicheleinheiten einfordert. Es ist kein Anlass zur Sorge, wenn ein Kind Berührungen phasenweise ablehnt; das Bedürfnis kann selbst unter Geschwistern sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Wichtig ist es, sensibel die Bedürfnisse wahrzunehmen und sich darauf einzustellen. Schließlich wollen auch wir als Erwachsene ja auch nicht gegen unseren Willen angefasst werden.
Auch in der Pädagogik spielen Berührungen heute eine wichtige Rolle. Denn sie sind ein wunderbares Mittel, um Kinder zu motivieren, zu beruhigen und emotional stark zu machen. So lernen beispielsweise Grundschüler in Projekten, sich gegenseitig zu massieren, um Stress abzubauen und so besser im fordernden Schulalltag zu bestehen. Ein beruhigendes Streichen über die Schultern und den Rücken kann wohltuende Entspannung bringen. Das Konzept „Berührung mit Respekt“ der Deutschen Gesellschaft für Baby- und Kindermassage (DGBM) richtet sich an Kinder, Eltern und Pädagogen. Dabei zeigen Trainer den Kindern Streichmassagen für Entspannung, Konzentration und Selbstbewusstsein. Ziel ist es dabei nicht, dass Erwachsene die Kinder massieren, sondern die Kinder lernen, die einfachen Techniken selbst bei anderen Kindern anzuwenden. Und es geht auch darum, Kinder für die Frage zu sensibilisieren, ob und von wem man berührt werden möchte, wer einen nicht anfassen darf und in welchem Umfang man Körperkontakt haben möchte.
Der sensible Umgang mit dem Thema ist ein wichtiger Teil der Prävention von sexuellem Missbrauch. Immer gilt: Ein Nein ist immer völlig ok, ganz gleich, ob im Rahmen von Kita- und Schulprogrammen oder im familiären Umfeld. Kinder sollten früh vermittelt bekommen, dass sie ihre Grenzen selbst setzen und formulieren dürfen und müssen - auch und gerade Erwachsenen gegenüber. Kinder haben bei körperlicher Selbstbestimmung die gleichen Rechte wie Erwachsene.
Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme ist seit vielen Jahren den Effekten menschlicher Berührungen auf der Spur. Sie betont: „Es geht darum, eine sensible Balance zu finden.“ Eltern sollten aufmerksam beobachten, wie das Kind auf Berührung reagiert und auf seine Bedürfnisse eingehen. Diese können sich durchaus verändern. Oft suchen Kinder, die sich gerade in einer Entwicklungsphase befinden, gezielt Nähe. Sind sie eher in einer freiheitssuchenden Phase und möchten nicht angefasst werden, sollten Eltern mehr Raum geben. Bestimmte Zeitpunkte im Tagesablauf können leicht durch Berührungen ritualisiert werden: das Aufwecken und zu Bett bringen, sich begrüssen und verabschieden. Auch Lob und natürlich Trost werden durch Berührungen direkter und herzlicher und sie kommen durch Berührung auch auf einer emotionalen Ebene beim Kind an. Zeigt ein Kind eine Abwehrreaktion, sollte man dies respektieren, ohne es persönlich zu nehmen.
Auch im späteren Leben, wenn wir längst erwachsen sind, entfalten Berührungen starke Wirkungen. Bei Experimenten mit strategischen Spielen etwa zeigte sich, dass Teilnehmer kooperativer sind, wenn sie einander berühren. Studenten trauen sich eher an die Tafel, wenn der Professor sie bei der Aufgabenstellung ermunternd am Arm berührte. Und Kellnerinnen bekamen in einem Experiment mehr Trinkgeld, wenn sie die Gäste wie beiläufig am Arm berührten. Berühren schafft Vertrauen, Geborgenheit und ein Gefühl von Miteinander und Zugehörigkeit. So wirkt es sich positiv auf unser Verhalten und das
Zusammenleben aus. Der Kontakt baut unsichtbare Brücken zu Anderen.
Und wohl jeder, der Angehörige in einem Alten- oder Pflegeheim hat, hat schon die Erfahrung gemacht, wie dankbar hochbetagte Menschen sind, wenn man sie liebevoll in den Arm nimmt, ihre Hand streichelt oder eine kleine Massage gegen Verspannungen gibt. Auch Pflegekräfte machen immer wieder diese Erfahrung, auch wenn im stressigen Alltag dafür oft nur wenig Zeit bleibt. So ist körperliche Nähe heute ein fester Bestandteil vieler Therapie- und Versorgungskonzepte. In der sogenannten „Basalen Stimulation“ werden bewusste Berührungen in den alltäglichen Umgang mit den Patienten eingebaut.
Martin Grunwald erforscht am Haptik-Labor der Universität Leipzig, wie taktile Reize auf Menschen wirken. Er weiß, dass es in der westlichen Kultur ein wenig in Vergessenheit geraten ist, obwohl Berührungen für Lebewesen fast so wichtig sind wie die „Luft zum Atmen“. Irgendwo zwischen Smartphone, sozialen Medien und Singlehaushalten ging der simple Hautkontakt zu anderen verloren. Und in Deutschland gibt man sich ohnehin deutlich weniger berührungsfreundlich als in anderen Regionen der Welt. Wer durch Süd- und Osteuropa oder Lateinamerika reist, dem fällt meist schnell auf, dass man sich dort im Körperkontakt leichter tut. Umarmungen, Wangenküsschen, Tätscheln sind im Alltag viel selbstverständlicher.Kein Wunder, dass gerade Massagen zu den beliebtesten Wellness-Anwendungen zählen und im Westen seit Jahren ausgerechnet der Argentinische Tango boomt, der in einer sehr engen Umarmung mit dem Partner getanzt wird. Viele verlieren über den Tango die verbreitete Scheu, fremde Menschen anzufassen. Auch organisierte Kuschelpartys in vielen Städten sollen der verbreiteten Berührungsarmut entgegenwirken. So gilt - gerade in der kalten Jahreszeit: Einfach mal den nächsten netten Menschen umarmen, der einem über den Weg läuft. Was in Corona-Zeiten allerdings etwas schwierig ist.

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