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Filme im Kino
MoX Kino KW 3131.07.2024
Texte: Horst E. Wegener
The Dead don´t hurt
GB/Mexiko/Dänemark ´23: R: Viggo Mortensen. Ab 8.8. Wertung: ***** Bild: Marcel Zyskind / Alamode
San Francisco in den frühen 1860er Jahren: Obwohl sie auf ihre Unabhängigkeit größten Wert legt, muss die Frankokanadierin Vivienne Le Coudy (Krieps) nicht lange überlegen, als ihr der aus Dänemark stammende Tischler Holger Olsen (Mortensen) begegnet. Es ist für beide Immigranten Liebe fast auf den ersten Blick – weshalb Vivienne ihrem wortkargen Handwerker dann kurzentschlossen nach Nevada folgt, wo dieser im Provinznest Elk Flats ein kleines Häuschen besitzt und seinen Lebensunterhalt mit dem Bau von Scheunen verdient. Um aber auch weiterhin finanziell selbstständig dazustehen, nimmt Vivienne eine Arbeit im örtlichen Saloon an. Genauso wenig erfreut wie Holger über die Entscheidung seiner Liebsten ist, leidet diese bald unterm Alleingelassen werden, weil ihr Sturkopf der Meinung ist, freiwillig auf der Seite der Union im aufkommenden Bürgerkrieg kämpfen zu wollen. Im klassischen Western würde sich die Regie nun an die Fersen des einsilbigen Mannsbilds heften, um ihn durch die Kriegswirren zu begleiten – nicht so hier! Filmemacher Viggo Mortensens Interesse gilt eindeutig dem Schicksal der weiblichen Hauptdarstellerin, die auf sich allein gestellt zurückbleibt.
Nach seinem Regiedebüt „Falling“ von 2020 ist „The Dead don´t hurt“ die zweite Regiearbeit des Kunstkinoliebhabers; damit nicht genug, steuerte der gebürtige Däne obendrein Drehbuch und Filmmusik bei, übernahm zudem eine der beiden Hauptrollen. Als Zuschauer wird man durch die gewählte Erzählstruktur von Anfang an gefordert: Los geht´s mit Viviennes Tod, um uns hernach ihre Lebensgeschichte auf mehreren ineinanderlaufende Zeitebenen per Rückblenden näher zu bringen - beginnend mit dem ersten Aufeinandertreffen der beiden Immigranten in San Francisco, deren romantische Kennenlern-Phase und Zweisamkeit ein jähes Ende findet, sowie es Holger in den Krieg zieht. Umgeben von Korruption und den Machtspielen des Kleinstadt-Bürgermeisters (Huston) muss sich Vivienne der aufdringlichen Avancen des brutalen Rancherssohn Weston Jeffries (McLeod) erwehren. Vergeblich – als Holger nach jahrelanger Abwesenheit endlich wieder in Elk Flats auftaucht, ist sowohl er als auch seine große Liebe ein anderer Mensch geworden. Vivienne, die vom Jeffries-Junior nach einer Vergewaltigung ein Kind bekommen hat, und ihr von seinen Fronterlebnissen sichtlich gezeichneter Kriegsheimkehrer versuchen dennoch, wieder zueinander zu finden. Auch dank einer überragend schauspielernden Hauptdarstellerin Vicky Krieps überzeugt Mortensens Regie mit seinem ungewöhnlichen Portrait einer rätselhaft leidenschaftlichen Frau, die auf Biegen und Brechen daran fest hält, in einer von rücksichtslosen Männern bevölkerten Welt für sich selbst einzustehen. Allein schon ihre Vivienne-Verkörperung macht „The Dead don´t hurt“ sehenswert, schenkt dem cineastisch interessierten Publikum einen feministischen Western, den die Regie um klassische Zutaten wie süchtig machende Breitwandlandschaftspanoramen, korrupte und fiese Bösewichte, stille Helden und lakonische Gesprächs-One-Liner ergänzt.
D: Viggo Mortensen, Vicky Krieps, Solly McLeod, Garret Dillahunt, Danny Huston.
Liebesbriefe aus Nizza
Frankreich ´24: R: Ivan Calbérac. Ab 1.8. Wertung: **** Bild: Wild Bunch Distribution
Der erzkonservative Pensionär Francois Marsoult (Dussollier) fällt aus allen Wolken, als er auf dem Dachboden seines Hauses alte Liebesbriefe an die Göttergattin entdeckt. Da wird unter anderem vom „explodierenden Venus-Dreieck“ seiner Annie geschwärmt, was eindeutig einen Seitensprung nahelegt. Obwohl die Affäre gut vierzig Jahre her ist, macht den Ruheständler diese Entdeckung rasend. Und lässt ihn auf Rache sinnen. Seine bessere Hälfte (Azéma), mit der er seit mittlerweile fünfzig Jahren verheiratet ist, reagiert angesichts des nach ihrer Überzeugung längst verjährten Seitensprungs teils amüsiert, teils konsterniert. Dass der Gemahl dann sogar ihr gemeinsames, in seinen Augen „besudeltes Ehebett“ verlässt, nötigt ihr bestenfalls ein Kopfschütteln ab. Wutentbrannt frischt der prinzipientreue Francois derweil seine früheren Kontakte zum Geheimdienst wieder auf, um den einstigen Casanova ausfindig zu machen. Und dann reist er in Begleitung seiner Ehefrau an die Côte d´Azur, wo besagter Ex-Lover (Lhermitte) nach wie vor lebt. Eigentlich will Francois die einst erlittene Schmach mit den Fäusten klären, muss aber feststellen, dass ihm sein Gegner Boris sowohl körperlich als auch in puncto Charme hoffnungslos überlegen ist. Während Annie den Rücksturz in die Vergangenheit zusehends mehr genießt, verrennt sich ihr Mann in seine Rachepläne.
Mit „Liebesbriefe aus Nizza“ inszeniert Regisseur Ivan Calbérac, der einem hierzulande durch seine Komödie „Frühstück bei Monsieur Henri“ bekannt wurde, erneut eine jener typisch französischen Sommerkomödien, die sich vor der Traumkulisse der Côte d´Azur in eine aberwitzige Revanche à trois verwandeln darf. Und dank einem in Bestform agierenden Altstar-Trio sind uns 95 Minuten allerbester Screwball-Schlagabtausch sowie ein paar Denkanstöße fürs in Würde altern garantiert.
D: André Dussollier, Sabine Azéma, Thierry Lhermitte, Joséphine de Meaux, Sébastien Chassagne.
Tatami
Georgien/USA ´23: R: Guy Nattiv, Zar Amir. Ab 1.8. Wertung: **** Bild: Judo Production LLC
Zu den Judo-Weltmeisterschaften im georgischen Tiflis reist die iranische Sportlerin Leila Hosseini (Mondi) mit ihrer Trainerin Maryam Ghanbari (Amir) an. Und die Chancen auf eine Medaille stehen gut. Als es sich dann aber abzeichnet, dass Leila im Turnierverlauf auch mit einer Gegnerin aus Israel in den Ring steigen könnte, läuten beim Teheraner Regime sämtliche Alarmglocken. Nicht auszudenken, wenn eine Iranerin gegen die als Favoritin gehandelte Israeli unterliegen würde. Per Telefonanruf wird Trainerin Ghanbari vom nationalen Judoverband mitgeteilt, dass ihr Schützling umgehend ausscheiden müsse, weshalb man eine Verletzung vortäuschen solle. Doch Leila weigert sich, diesem Wunsch von ganz oben Folge zu leisten. Egal, wie sehr das Regime mit wiederholten Anrufen bei der Trainerin Druck ausübt oder ein vor Ort anwesender Funktionär Drohungen ausspricht – notfalls überwirft sich Leila sogar mit Ghanbari. Während die Judoka Runde um Runde ihrer erhofften Medaillenchance näher kommt, ihr dabei aber peu à peu die Kräfte schwinden, schaut Leilas in der Heimat gebliebener Ehemann der Live-Berichterstattung im Fernsehen zu. Von bösen Vorahnungen geplagt, beschließt er, mitsamt Kind unterzutauchen - gerade noch rechtzeitig, während die Polizei schon auf den Weg zu ihm ist.
Spannend in der Inszenierung und glaubwürdig besetzt, nimmt sich „Tatami“ die Folgen der politischen Einflussnahme eines Regimes auf internationale Sportveranstaltungen vor. Unter der Regie des israelisch-iranischen Filmer-Duos Nattiv/Amir werden die Sportlerinnen von den Mullahs als pure Schachfiguren betrachtet, die sich allenfalls für Propagandazwecke einsetzen lassen. Spielt jemand nicht mit, drohen drastische Konsequenzen. Von Anfang an wird enorm aufs Tempo gedrückt, um eine heroische Geschichte über weiblichen Widerstand wiederzugeben, erinnern die in Schwarzweiß inszenierten Kampfsequenzen an Martin Scorseses „Raging Bull“, bedient man sich gekonnt der Mittel sowohl des Sportthrillers als auch des Politdramas. Mitreißend!
D: Zar Amir, Arienne Mondi, Jaime Ray Newman, Nadine Marshall, Lir Katz.
Shahid
Deutschland ´24: R: Narges Kalhor. Ab 1.8. Wertung: **** Bild: Schmidbauer-Film GmbH
Narges Shahid Kalhor sieht sich bestens vorbereitet für ihr Ansinnen an den deutschen Staat: Doch so leicht ändert niemand hierzulande seinen Namen oder lässt einen Teil davon wegstreichen! Zwar hat die in Deutschland lebende Ex-Iranerin ihrer Sachbearbeiterin im bayerischen Kreisverwaltungsreferat fast alle Dokumente mitgebracht, die fürs Vorhaben notwendig sein könnten – doch ohne ein psychologisches Gutachten über jene Seelenpein, die die Antragstellerin durch die Bedeutung des Namens Shahid nächtens Albträume durchleiden lässt, ist nichts zu machen. Shahid bedeutet auf Farsi „Märtyrer“ – und konfrontiert die seit 2009 in Deutschland lebende und als Regisseurin arbeitende Tochter eines politischen Beraters des früheren iranischen Präsidenten Ahmadineschad in schönster Regelmäßigkeit mit Träumen rings um ihren Urgroßvater.
In ihrer autobiografisch angelegten Doku begreift die Filmerin ihre eigene Identitätssuche als Einstieg für eine Auseinandersetzung mit den Ahnen und der Historie des Irans einerseits sowie den Absurditäten der deutschen Bürokratie und des buchstabengetreu zu befolgenden Asylrechts – sehenswert.
D: Narges Kalhor, Baharak Abdolifard, Nima Nazarinin, Saleh Rozati, Thomas Sprekelsen.
Was will der Lama mit dem Gewehr?
Bhutan/Taiwan/Frankreich/USA ´23: R: Pawo Choyning Dorji. Ab 1.8. Wertung:**** Bild: MFA+ Film Distribution
Im Königreich Bhutan nach der Jahrtausendwende strebt man nach Modernisierung: Nachdem Fernsehen und Internet zugelassen wurden, die Bevölkerung als Alternative zum Volksgetränk Tee zu schwarzem Wasser, sprich Cola greifen darf, schweben dem Monarchen im Zuge seiner Abdankung für seine Untertanen der unblutig verordnete Übergang zur Demokratie vor, liebäugelt der Herrscher mit politischen Parteien und freie Wahlen nach britischem Muster. 2006 ist´s seiner Meinung nach höchste Zeit, weshalb man Testwahlen ansetzt, bei denen sich drei fiktive Parteien im Wahlkampf üben sollen. Derweil die damit befasste Leiterin der Wahlkommission, Yangden (Sherpa), im Nu am Sinn einer verordneten Demokratie zu zweifeln beginnt, wenn die Aufstellung neuer Parteien den Bhutanern doch nur Postengeschacher, Streitereien, Neid beschert, beauftragt in einem entlegenen Bergdorf ein Lama seinen Meisterschüler (Wangchuk), ihm für eine Zeremonie zwei Gewehre zu besorgen. Was der junge Mönch schließlich findet: Eine Uralt-Winchester aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, für die sich auch ein Waffenhändler aus den USA interessiert.
Allemal mehrdeutig lässt Regisseur Pawo Choyning Dorji – dessen Regiedebüt „Lunana – Das Glück liegt im Himalaya“ anno ´22 für den Auslands-Oscar nominiert war - gleich mehrere Erzählstränge ineinanderfließen. Was einem da scheinbar nebenbei aufgetischt wird, entpuppt sich als demokratiekritische Kapitalismus- und Globalisierungs-Schelte, macht nachdenklich! Und bringt uns die Erkenntnis: Von Bhutan lernen, heißt glücklich werden.
D: Tandin Wangchuk, Pema Zengmo Sherpa, Tandin Sonam, Choeying Jatsho, Deki Lhamo.
Touch
Island ´24: R: Baltasar Kormákur. Ab 8.8. Wertung: **** Bild Focus Features
Ein Schicksalsschlag kommt selten allein: Und so bleibt dem frisch verwitweten isländischen Restaurantbesitzer Kristofer (Olafsson) schon allein aufgrund der aufkommenden Corona-Pandemie keine andere Wahl, als den Anordnungen der örtlichen Behörden Folge zu leisten und seinen Betrieb einstweilen dicht zu machen. Doch damit nicht genug, bekommt er von seinem Arzt die Diagnose Demenz im Anfangsstadium mitgeteilt – inklusive des Ratschlags, bislang unerledigte Dinge möglichst anzugehen, solange einem dazu noch Zeit und Energie und der nötigen Durchblick bleibt. Beim Kramen in alten Sachen, stößt der Unruheständler alsbald auf ein Erinnerungsstück, das ihm seine Jugendliebe Miko ins Gedächtnis ruft. Sie war die Tochter seines Chefs in einem Londoner Restaurant, in dem sich vor gut 50 Jahren Studienabbrecher Kristofer vom Tellerwäscher zum Koch hocharbeitete. Schnell waren Miko und Kristofer (in der Jugend: Kôki und Kormákur Junior) miteinander sehr vertraut, verbrachte man eine leidenschaftliche Zeit – bis Kristofers große Liebe und ihr Vater eines Tages ohne jede Erklärung gen Japan entschwanden. Was mag aus Miko geworden sein – eine Frage, die der Witwer unbedingt lösen will, solange ihm noch Zeit dazu bleibt.
Der isländische Regisseur Baltasar Kormákur, mittlerweile in Hollywood auf Genrearbeiten wie zuletzt „Beast – Jäger ohne Gnade“ abonniert, adaptiert hier eine Literaturvorlage. Und er schickt Kristofer auf eine Reise nach London, um sich an früher zu erinnern. Da aber im Hier und Jetzt im Haus des früheren Restaurants ein Tattoostudio residiert, bleibt dem Träumer nichts weiter übrig, als die Suche in Japan fortzusetzen. Der Regie gelingt es, uns ein modernes Märchen auszuleuchten, dessen Geschichte nie ins Kitschige wegdriftet; Happy-end inklusive.
D:Egill Ólafsson, Yôko Narahashi, Palmi Kormákur, Kôki, Masahiro Motoki, Ruth Sheen, Masatoshi Nakamura, Meg Kubota.