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„Die weiße Rentierflechte“ von Anna Nerkagi31.08.2021

„Die weiße Rentierflechte“ von Anna Nerkagi

Interview und Foto: Thea Drexhage

Er möchte sein persönliches Glück. Seine Mutter findet das albern, denn Liebe und Romantik gibt es in dieser Welt nicht. Die Natur ist so hart, dass man überleben muss und das kann man nicht, wenn man auf sowas gefühlsduseliges wie Liebe und Romantik schwört. Sie möchte, dass er heiratet, nicht, damit er glücklich wird, sondern damit jemand da ist, der die schweren Arbeiten erledigen kann, die sie bald nicht mehr schaffen kann, denn einen Vater gibt es nicht mehr. Aljochka will das nicht, aber die Mutter kauft ihm einfach eine Braut. Ein junges Mädchen, die Aljoschka nichteinmal anschaut. Auf der anderen Seite haben wir die Generation der Mutter, die ihren Sohn nicht versteht und sich grämt, dass keine Enkelkinder kommen. Es gibt noch einen Mann, der kommt zu dieser speziellen Familiengruppe. Der war noch vor wenigen Jahren angesehen. Er hatte eine große Rentierherde, er hatte alles. Sein Tisch war immer gedeckt für alle, aber jetzt hat er nichts mehr. Warum nicht? Weil seine erwachsenen Kinder, die auch den Nenzenstamm verlassen haben gekommen sind, nicht um ihren Vater zu sehen und seine Weisheiten zu hören, sondern sie wollen Geld. Sie verlangen, dass er seine Rentiere schlachtet und verkauft, denn er sei es ihnen schuldig. Sie hätte ja nichts gehabt. Damit verliert er seine Grundlage, wird arm, reist nach wie vor herum, ist aber total abgerissen. Auch die Tiere und Schlitten sind alle in schlechtem Zustand. Er beginnt dann sein Leben zu erzählen. Es stellt sich heraus, dass seine Tochter das Mädchen ist, in das Aljoschka so verliebt ist. Es beginnt zum Schluss des Buches ein leises Nachdenken bei Aljoschka. Was ist wichtiger: das eigene Glück oder das Überleben aller sowie der Respekt vor den Älteren?

MoX: Wie haben Sie das Buch gelesen?
Claudia Hoffmann: Ich lese Bücher nur in Papierform. Aufmerksam bin ich darauf durch einen Zeitungsartikel geworden.

MoX: Was hat Ihnen besonders gut gefallen?
Claudia Hoffmann: Das Buch ist wunderbar geschrieben. Es ist bebildert mit Fotos von Preisträger Sebastian Salgado. Es ist optisch schön und sprachlich schön mit einem ganz wunderbaren Thema. Ich bin ein Fan der Inuit. Ich liebe Geschichten, die dort spielen. Am besten gefallen hat mir die Beschreibung dieser Welt, die es so noch gibt, aber wahrscheinlich auch nicht mehr lange. Mir hat auch die Sprache sehr gut gefallen. Sie ist poetisch, sie ist sehr ausgewählt. Ich denke es interessiert uns alle sehr, wie Menschen eigentlich ohne all den Komfort, ohne all die Technik die wir kennen leben und ob sie dabei vielleicht glücklicher als wir sind. Ich habe es sehr genossen, dieses kleine, feine und sehr schmale Buch zu lesen. Es ist eines der Bücher die bleiben.

MoX: Wem würden Sie das Buch empfehlen?
Claudia Hoffmann: Es ist ein spannendes Buch auch für die Menschen, die vielleicht noch nie etwas gelesen haben, das in Sibirien spielt. Grundsätzlich kann ich das Buch aber allen Menschen empfehlen, die sich für andere Volksstämme interessieren. Das ist überwiegend die Generation 50+, aber es gibt auch junge Menschen, denen ich das Buch ans Herz lege, weil ja in diesem Buch ein junger Mittzwanziger von seinem Leben spricht.

MoX: Was wissen Sie über die Autorin?
Claudia Hoffmann: Die Autorin gehört den Nenzen an. Das ist ein sibirischer Volksstamm, der noch lebt wie noch vor 100 Jahren. Sie ziehen wie die Nomaden durch das Land, züchten Rentiere und ziehen ihre Kinder groß. Die Autorin kommt aus der Zeit, in der die Sowjetmacht die Kinder solcher Urvölker weggenommen und in Internate gesteckt hat. Daher schreibt sie auch auf russisch. Sie hat einen Abschluss gemacht in Geologie und ist dann 1980 wieder zurückgegangen zu den Nenzen und lebt nun dort und bringt den Kindern Dinge von der Welt bei, die man so wissen muss.


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