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Wozu eine BahnCard 100 gut ist. Wohnungslos auf Deutschlandtour mit Albrecht Selge20.11.2019



text | Horst E. Wegener

Nachdem ihr die Wohnung gekündigt wurde, hat die zuletzt bei einem Reisebüro arbeitende Berlinerin aus der Not, kein bezahlbares neues Domizil in der Hauptstadt auftun zu können, sich für die Alternative BahnCard100 entschieden. Hat ihre Siebensachen in eine Sporttasche gepackt, und fährt nun schon im zweiten Jahr kreuz und quer durchs Land. Macht flüchtige Bekanntschaften, besucht ab und an eine Freundin – und während Landschaften am Zugfenster vorbeifliegen, erinnert sich unsere Reisende ihrer Kindheit. Schmökert in ihrem Lieblingsbuch „Gedichte der Romantik“, informiert sich in liegengebliebenen Tageszeitungen, wäscht sich in den Behindertenklos der ICEs, gönnt sich Dates.
Aus der prekären Situation jener in Endlosschleife durch Deutschland reisenden Rentnerin entwickelt der 1975 in Heidelberg geborene und in West-Berlin aufgewachsene Schriftsteller Albrecht Selge seinen dritten Roman. „Fliegen“ entpuppt sich als aspekt- und affektreiches Panorama unserer modernen Gesellschaft. Wird wortmächtig angereichert mit den Erinnerungen einer Rentnerin an ihre behütete Kindheit und Jugend, eine gescheiterte Ehe, aktuelle Kurzzeitbegegnungen. Ist zusätzlich durchsetzt von Zitaten aus Liedern, Gedichten und Romanen, die uns die Liebe des studierten Germanisten Selge an Weltdichtung verdeutlicht.
Dass Menschen heutzutage mitunter gezwungen sind, im Zelt, Wohnmobil oder auf Achse ihre Wohnungslosigkeit zu kaschieren, ist nichts Neues. So skandalös dieses Existenzmodell uns in unserem reichen Land vorkommen muss, „Fliegen“ bringt einem eine dieser Existenzen auf durchaus sympathische Art und Weise näher. Wie schon in seinem vorigen Roman „Die trunkene Fahrt“ - in dem ein Männerquartett einen Tag lang im Auto durch Südtirol fährt, dabei zusehends betrunkener werdend bildungsbürgerliche Gespräche über klassische Musik führt –, gibt es keinen finalen Höhepunkt, auf den sich „Fliegen“ hinbewegen könnte. Während sich die Schrift von Selges Südtirol-Sause im immer kleiner werdenden nicht mehr Entzifferbaren verliert, verschwindet unsere BahnCard100-Besitzerin zuguterletzt irgendwo im Gedrängel. Spurlos. C´est la vie, that’s life – in unseren Städten hier und heute.

Albrecht Selge liest
24.11. | 11:00 Uhr
aus seinem Roman Fliegen
im Wilhelm13 OL

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