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Milieustudien09.07.2020



Text : Horst E. Wegener

West-Berlin in den 1980er Jahren galt als schwer angesagtes Pflaster für Möchtegernkreative, Überlebenskünstler, Wehrdienstverweigerer, Bundeswehrflüchtlinge, Punks und Hausbesetzer. Wenn wir uns heutzutage in jenen Kreuzberger Ecken umschauen, in denen man einst nahe der Mauer künstlerischen Dilettantismus exzessiv ausleben konnte, dann dürfte es einem schwerfallen, von diesem Geist noch allzu viel wiederzufinden. Total durchgentrifizierte Hipsterläden, Edelboutiquen, Szenecafés, -bars und -restaurants haben sich selbst dort breit gemacht, wo vorm Ende der DDR linksalternative Müßiggänger in Absturzlokalitäten nächtelang ´spinnerte Ideen ausdiskutierten. Das Gefühl für diesen sehr speziellen Alltag im West-Berliner Vor-Wende-Sumpf vermittelt uns noch am ehesten ein Eintauchen in Erinnerungsbücher, -filme, Bühnen- oder Musikexperimente – präzise geschildert etwa in Sven Regeners Milieustudien um den bis ins Mark ambitionslosen Herrn Lehmann mitsamt seiner Spezis zum Tagträumen an.
Der 1961 in Bremen geborene Wahl-Berliner Regener – einerseits Sänger, Texter, Trompeter und kreativer Mittelpunkt der Kultband Elements of Crime, andererseits wortmächtiger Schriftsteller und Drehbuchautor – scheint auch nach Abschluss seiner erfolgreich verfilmten „Herr Lehmann“-Trilogie dem Umfeld jenes Lehmann´schen Lebensmittelpunkts stoisch die Treue zu halten. Im Nachfolgeschmöker „Magical Mystery Tour oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ wurde Lehmann-Spezi Schmidt zur zentralen Figur aufgewertet. In „Wiener Straße“ gibt es abermals ein Wiedersehen mit Gästen und Personal des Café Einfall, in dem Frank Lehmann mittlerweile sein Geld als Putze verdient. Da sich sein kunstsinniger Chef Erwin Kächele aufs Vater-sein vorbereitet, muss Untermieter Lehmann wohl oder übel das Feld räumen, kann aber praktischerweise in ein WG-Zimmer in der Wohnung überm Café Einfall einziehen. Zwischen dieser neuen Bude, der Kneipe drunter und einer Gruppe von Aktionskünstlern, die in der nahe gelegenen ArschArt-Galerie unter der Fuchtel ihres Chefs P. Immel auf kreativ markieren, pendeln Regeners „Wiener Straße“-Beobachtungen hin und her. Wie in einer Nummernrevue wird das Aussteiger-Idyll im Schatten der Mauer randscharf ausgemalt. Diese Präzision der Beschreibung von teils banalen, teils grotesken Situationen ist eine der Spezialitäten des so wortmächtigen wie witzigen Geschichtenerzählers. Und wertet auch Regeners Songtexte ungemein auf.
Obwohl der Element of Crime-Frontmann heute mitsamt Ehefrau und zwei Kindern im hippen Hauptstadtbezirk Prenzlauer Berg wohnt, man übers Wochenende in ein Häuschen außerhalb Berlins ausweichen kann, hat er seine West-Berliner Vorwende-Identifikationsfiguren vom 2001 erschienenen Romandebüt „Herr Lehmann“ an nie ganz aus den Augen verloren. 1980 wurde der Abiturient Regener zur Bundeswehr eingezogen. Nach 180 Tagen Dienst an der Waffe gelang dem Bremer die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, seine Zivildienstkarriere führte ihn als Hilfshausmeister in ein Kinderheim in Lüneburg. Anno ´81 begann er ein Studium der Musikwissenschaften in Hamburg, ab ´82 in West-Berlin. Dort verdingte sich Regener als Trompeter bei der Punkformation Zatopek. Gründete ´85 mit anderen Element of Crime, die spätestens mit ihren deutschsprachigen Alben zum Liebling des Feuilletons avancierten. Dass man im Radio eher nicht stattfindet, ist der Vertracktheit ihrer Texte und der Länge vieler Songs geschuldet, kann Regener und Co aber nicht vom einmal beschrittenen Weg abbringen. Und das ist gut so!

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