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Erinnerungen …
… an das Black Woodstock anno 196914.10.2021



Text: Horst E. Wegener


Während besagter 20. Juli 1969 seither vor allem in der weiß dominierten Welt historisch verklärt wurde, tummelte sich zeitgleich im New Yorker Stadtteil Harlem die black community auf dem Gelände des Mount Morris Parks (heute Marcus Garvey Park), um unter anderem den furiosen Trommel-Experimenten des 19jährigen Tausendsassa Stevie Wonder zu lauschen. Der blinde Motown-Künstler Wonder war einer von vielen Musikern, die in diesen Sonntagnachmittagsstunden die Anwesenden des Harlem Cultural Festivals mit ihrem Können begeisterten. Neil Armstrongs Erdtrabantenerkundung fand hier kaum Beachtung. „Die Schwarzen wollen zurück nach Afrika, die Weißen fliegen zum Mond. Ich werde schön in Harlem bleiben und mit den Puertoricanern feiern“, brachte ein Festivalgast die Stimmung im Park gegenüber dem TV-Kamerateam eines lokalen Senders auf den Punkt. Im Jahr drauf  schrieb der New Yorker Rap-Pionier Gil Scott-Heron seine Protesthymne „Whitey on the Moon“ über ein Land, das Geld in die Eroberung des Weltraums steckt, während in den Ghettos der Farbigen Kinder verhungern und ihre älteren Brüder und Schwestern an einer Heroin-Überdosis verrecken.
Doch zurück zum Harlem Cultural Festival: Es sagt so einiges über das jahrzehntelang praktizierte US-amerikanische Geschichtsbewusstsein, das viele für die schwarze Bevölkerung zentrale Ereignisse komplett aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden konnten – während sich das wenige Wochen später vor den Toren New Yorks stattfindende Woodstock-Festival im Nu ins kulturelle Weltgedächtnis einbrennen sollte. Für einen Bruchteil jener Filmaufnahmen, die Regisseur Hal Tulchins Team seinerzeit im New Yorker Mount Morris Park auf Video festhielt, mochte sich der lokale TV-Sender Channel 5 erwärmen. Und hievte während der sechs Sonntage, die das Festival vom 29. Juni bis zum 24. August der afroamerikanischen Musikkultur widmete, jeweils einstündige Zusammenschnitte ins Programm. Doch hernach zeigten weder irgendwelche Independent-Verleihe noch Hollywoods Traumfabrikler Interesse - egal wie sehr sich Tulchin für sein Rohmaterial bei Produzenten in aller Welt immer mal wieder ins Zeug legte. Anders als Michael Wadleighs filmische Doku über das dreitägige Get together der zumeist weißen Love&Peace&Rock´n´Roll-Anhänger außerhalb von Big Apple fanden die von Tulchin als black Woodstock-Studie promoteten fast vierzig Stunden Ausgangsmaterial jahrzehntelang keinen Weg in abendfüllende Filmformate, um so zum Klassiker des Musikfilms zu avancieren.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 2017 überließ der frustrierte New Yorker Filmemacher Hal Tulchin seine im Keller gestapelten Videokassetten dem schwarzen Pop-Essayisten Amir Thompson, der zu jenem Zeitpunkt unterm Alias Questlove bei der Rap-Gruppe The Roots am Schlagzeug saß und schon die TV-Studioband von Late-Night-Talker Jimmy Fallon leitete. Wie ein DJ sichtete und digitalisierte Thompson das Material, um es zur Doku „Summer of Soul“ zu verdichten. Beim diesjährigen Sundance-Festival bejubelte man sein Regiedebüt als eine Art „schwarzes Pendant zu Michael Wadleighs Woodstock-Doku“ – wie seinerzeit von Tulchin erhofft. Dem Film wurde beim renommierten US-Independentfestival sowohl der Publikumspreis als auch der Grand Prix der Jury zugesprochen; Grund genug für das Disney-Imperium, hellhörig zu werden.
Allein schon mit Blick auf die beim „Summer of Soul“ mittuenden Musiker kann das Ergebnis nur sensationell genannt werden: Da reiht sich Höhepunkt an Höhepunkt, erhalten musikinteressierte Filmfans ein weit aufgespanntes Kompendium der damaligen Black Music vor Augen geführt. Das Programm umfasst psychedelischen Soul Rock (The Chamber Brothers), Blues (B.B. King), Gospel (The Edwin Hawkins Singers, Mahalia Jackson), Pop (The Fifth Dimension), klassischen Sixties-Soul (David Ruffin, Gladys Knight & The Pips), Jazz (Max Roach, Abbey Lincoln, Herbie Mann, Hugh Masekela), Latin Grooves (Mongo Santamaria, Ray Barretto), Future Sounds (Sly & The Family Stone, Stevie Wonder) und mündet in einen triumphalen Auftritt von Nina Simone, der Grande Dame der R&B- und Jazzmusik ein.
Während Gesang zu Trance und Ekstase oder Wut wird, holen Tulchins Kameraleute die Gesichter der Künstler ganz nah an die Linse: Man präsentiert uns den Schweiß und die Tränen der Künstler, zeigt  wie sie ihre Gefühle in Musik verwandeln. Zudem schwenken die Kameras immer mal wieder durchs Publikum – so viele Gesichter, extrem viele Arten, auf das Gehörte zu reagieren. Regisseur Thompson schneidet zwischen die Auftritte immer wieder Erinnerungen von Zeitzeugen, Musikern, ergänzt es um historisches Material von politischen Ereignissen und schwarzem Alltag. Zum Beispiel steuert die ehemalige New York Times-Reporterin Charlayne Hunter-Gault ihre Bemühungen um eine neue Sprachregelung bei der Zeitung bei und zeigt sich bewegt, dass es ihr gelang, den bis dahin allgegenwärtigen Begriff „Negro“ somit auch im allgemeinen Sprachgebrauch durch das Wörtchen „Black“ zu ersetzen; Bürgerrechtler Al Sharpton bekräftigt die Wichtigkeit dieser winzigen Wortneuwahl.
Als  narrative Klammer wählt Amir Questlove Thompson die Gewaltgeschichte der US-Gesellschaft in den 1960ern - mit den Morden an den Kennedys, an Malcolm X und Martin Luther King, mit den Rassenunruhen, dem militanten Widerstand der Black Panther Party, dem Vietnam-Krieg, der Heroin-Epidemie in der afroamerikanischen Community jener Jahre und dem Schulterschluss zwischen den Schwarzen und der puertoricanisch-kubanischen Bevölkerung der USA, die sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft marginalisiert fühlten.
Trotz dieser explosiven Lage erinnern sämtliche befragten Zeitzeugen die sonntäglichen Open-Air-Konzerte des ´69er Harlem Cultural Festivals als friedlich, familienfreundlich – vergleichbar einem „riesigen Barbecue-Fest“, laut der Aussage eines Festivalbesuchers, den „Summer of Soul“ stellvertretend fürs Publikum zu Wort kommen lässt. Dass man allen Anfeindungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft zum Trotz lieber friedlich feiern will, wird beim Auftritt von Nina Simone überdeutlich. Die Vorkämpferin der Black Consciousness Revolution kommt wie eine Naturgewalt über die Anwesenden, um mit den Worten des Soul-Radikalinskis David Nelson zu fragen: „Are you ready to smash white things, to burn buildings, are you ready?“ Doch aus der Erinnerung an jene fünf Jahre zurückliegenden Harlem Riots, die Nina Simone gern erneut als Funken eingebracht hätte, ließ sich offenbar kein Flächenbrand entfachen. Da die Reaktionen vor der Bühne nicht wie gewünscht ausfallen, schaltet die Grande Dame der R&B- und Jazzmusik um zur konstruktiveren Botschaft „Are you ready to build black things?“
Das in „Summer of Soul“ eingebaute Filmmaterial unterstreicht mehrfach, dass anno ´69 die Zeit vorbei war, in der Schwarze mit Anzug und Krawatte versuchten, weißer zu sein als die Weißen, ohne es ihnen je Recht machen zu können. Statt jedoch auf Krawall gebürstet zu sein, zelebrierte New Yorks schwarze Bevölkerung ihr erwachendes Selbstverständnis während des Harlem Cultural Festivals mit bunten afrikanischen Dashiki-Gewändern und ungebändigten Afrofrisuren. Gleichwohl konnte die Weltöffentlichkeit keine Notiz von den Ereignissen im Mount Morris Park nehmen, da die kulturelle Revolution nicht landesweit im Fernsehen übertragen wurde, wie es Rap-Urgestein Gil Scott-Heron Monate später in einem weiteren Songklassiker mit den Worten „When the Revolution could not be televised“ umschreiben mochte. Wenigstens in dieser Hinsicht haben sich die Zeiten geändert, dokumentieren und diskutieren Medien in aller Welt heutzutage solch gesellschaftliche Umbrüche. Ob´s was ändert?

Summer of Soul
USA 2021, Regie:  Amir Questlove Thompson
Dokumentation mit Stevie Wonder, B.B. King, Nina Simone u.a.

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