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Energiezukunft jetzt01.04.2022

Energiezukunft jetzt

Text: Horst E. Wegener Foto: Enertrag
Mit Blick auf die hiesige Abhängigkeit von russischem Gas, Öl sowie von Kohle hofft die Bundesregierung  mehr denn je darauf, den Windkraftturbo anwerfen zu können. Um die republikweit bestehende Energielücke zu schließen, strebt man als mittelfristig lösbares Ziel an, dass auf zwei Prozent der bundesweiten Landflächen künftig mit Windrädern Strom produziert werden muss. Die Ampel-Koalitionäre wollen die Axt an die bürokratisch überfrachteten Genehmigungsprozesse für Windkraftanlagen anlegen und das Erneuerbare-Energien-Gesetz reformieren – laut jüngstem Entwurf des Wirtschafts- und Klimaministeriums könnten bis 2030 rund 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Der zuständige Minister, Vizekanzler Robert Harbeck, weist gern darauf hin, dass im Gegensatz zu fossilen Brennstoffen weder Wind noch Sonne im Besitz von irgendwelchen Möchtegern-Weltherrschern sind; und in Harbecks Ministerium unterfüttert man dies Argument nimmermüd mit Berechnungen, denen zufolge solch grüne Energiegewinnung den Nutzer günstiger als jede andere, sprich: gestrige Energieform kommen dürfte.
In der Uckermark, rund 150 Kilometer nördlich von Berlin, ist diese Energiezukunft längst Wirklichkeit – dort profitieren die Bürger des Dorfes Nechlin gleich in mehrfacher Hinsicht von all den auf den Feldern rund um den Ort errichteten Windrädern der Gemeinde: Daraus produzierter Strom wird in einem Modellprojekt in den laut Betreiber weltweit ersten und einzigen Warmwasserspeicher eingespeist; technisch entspricht die von Fall zu Fall beabsichtigte Umwandlung von Windstrom in Heizungswärme keinem Zaubertrick, sondern folgt der Wirkungsweise eines Durchlauferhitzers, der Badewasser erhitzt.
Wärmespeicher in der Nähe von Windkraftanlagen können etwa Strommengen, für die gerade keine andere Nachfrage besteht, aufnehmen und über Wochen hinweg bereitstellen. Für das Klima ist das eine wunderbare Lösung, denn dieser Windstrom macht den Einsatz anderer Heizstoffe überflüssig und hilft somit CO2-Ausstoß zu vermeiden. Diese Philosophie  machte sich der Kraftwerksbauer und Kernphysiker Jörg Müller schon vor mehr als zwanzig Jahren zu eigen. Zusammen mit Gleichgesinnten gründete er die Netzbetreiberfirma ENERTRAG und suchte Unterstützer für den beabsichtigten Ausbau von Wärmenetzen. In der uckermärkischen Gemeinde Nechlin gewann man den Ortsvorsteher Hartmut Trester fürs Vorhaben, dem in der Folge die Aufgabe zufiel, alle Einwohner dafür zu gewinnen, sich an das geplante ENERTRAG-Wärmenetz anschließen zu lassen.
Mitte der 2010er-Jahre war das 100-Seelen-Örtchen Nechlin soweit, sich als Energiemodelldorf auszutesten: 17 Windkraftanlagen in der Umgebung sicherten in einem ersten Schritt die Warmwasserversorgung von rund 50 Haushalten. Zur Umwandlung des gewonnenen Windstroms errichtete Müllers Team eine eigene Anlage: Ein Glashäuschen voller Rohre und Armaturen, dahinter ein fünf Meter hoher grüner Speicher, ähnlich einem Silo. Darin können tausend Tonnen warmes Wasser zwischengespeichert werden; die Faustregel: 1000 Liter pro Einwohner.
Dieser Wärmespeicher wird immer dann aufgeheizt, wenn zwar der Wind weht, aber das Stromnetz schon voll ist. Früher musste man die Windräder abschalten, sobald sie überschüssigen Strom produzierten. Dank des Nechliner Speichers lässt sich Strom jetzt dauerhaft einsetzen und damit das gesamte Dorf beheizen, freut sich ENERTRAG-Chef Müller. Wer ins Netz integriert ist, braucht keine andere Energie mehr, bestätigt Teamleiter Stefan Käding. Vom Windfeld aus haben die Alternativstromerzeuger ein Kabel bis zum Speicher verlegt. Dorthin wird der per Windkraft erzeugte Strom geleitet, um das dort eingespeicherte Wasser wie in einem Durchlauferhitzer zu erwärmen – und dann an die angeschlossenen Haushalte weiterzuleiten.
Mit dem Windstrom im Warmwassernetz sind auch die Heizkosten für Nechlins Bürger gesunken, und genau so lässt sich die Akzeptanz für Windkraftanlagen über die Gemeinde hinaus steigern, bringt der Bürgermeister der Gemeinde Uckerland, Matthias Schilling (SPD), der sich Nechlin als eine von elf Ortschaften angeschlossen hat, ein weiteres Argument ins Feld. „Wir sind ja in dem Spannungsfeld, inwieweit regenerative Energie positiv oder negativ wahrgenommen wird“, meint Lokalpolitiker Schilling: Da sei es „unglaublich hilfreich, dass so etwas hier entstanden ist, weil die Bürgerinnen und Bürger direkt davon profitieren“.
Schon heute sind im nördlichen Brandenburg neun Prozent des Territoriums als so genannte Windeignungsflächen ausgeschrieben. Mit Stand Jahresbeginn 2022 sind insgesamt 105 Windräder in der Gemeinde Uckerland installiert, weitere werden sicher dazu kommen. Dabei gehe es mitnichten darum, dass immer mehr Windkrafttürme wie Spargel aus dem Boden schießen, sagt Nadine Haase vom Bundesverband Windkraft und Kommunikationschefin bei ENERTRAG. „Wir sind keine Spargelbauern, wir sind ein Erzeuger von erneuerbarer Energie und setzten dabei auf mehr Effizienz durch das Repowering, also den Ersatz bestehender Anlagen durch viel leistungsfähigere Windgeneratoren.“
Moderne Windräder mit einer Leistung von fünf Megawatt können viel mehr Energie erzeugen als ältere Windmühlen, die heute noch in der Landschaft stehen. Allerdings sind die neuen Modelle bis zu 250 Meter hoch und damit sehr viel höher als ihre Vorgänger. Diese Modifizierung bringt oftmals Probleme bei den notwendigen Abstandsflächen mit sich. Auch deshalb diskutiert Brandenburg im Potsdamer Landtag derzeit das neue Windkraftanlagen-Abstandsgesetz. Darin könnte der Abstand von Windkraftanlagen zur nächsten Bebauung auf 1000 Meter festgeschrieben werden. Auch zu Nistplätzen seltener Vögel beispielsweise müsste ein Sicherheitsabstand gewahrt bleiben. ENERTRAG-Kommunikationschefin Haase warnt in diesem Zusammenhang vor den Konsequenzen einer allzu starren Regelung. „Im Moment würde die Hälfte unserer Repoweringflächen herausfallen, wenn der Abstandswert von 1000 Metern so eng gefasst bleibt“.
ENERTRAG-Gründer Jörg Müller weist stattdessen lieber auf ein besonderes Zeitfenster hin, das sich öffnet: Nicht nur, dass bundesweit ab 2026 der Einbau neuer Ölheizungen prinzipiell verboten worden ist – die meisten Ölheizungen wurden in den 1990er Jahren eingebaut. Hier stehen Neuinvestitionen an. Und man müsse die Gelegenheit nutzen, so Müller, um mehr Kommunen für die günstige und klimafreundliche Windwärme zu gewinnen, bevor mit Gasheizungen neue CO2-Schleudern in Betrieb genommen würden.  
Nechlins Bürgermeister Schilling weiß aus vielen Gesprächen mit der Bevölkerung vor Ort ebenfalls, dass allein schon die jährliche Kostenersparnis pro Haushalt beim ENERTRAG-Modellprojekt einen Sinneswandel bei einstigen Kritikern der Windkraft herbeigeführt habe. Die Leute seien heutzutage froh, dass sie diese Alternative hätten. Jene Möglichkeit, preiswert mit der Windkraft vom Ortsrand zu heizen, bietet nicht zuletzt Chancen für eine verbesserte Akzeptanz der Windenergie. Selbst das von manchen Bürgern als störend empfundene nächtliche Blinken der Windkraftanlagen wird demnächst ein Ende haben. Bei ENERTRAG plant man, die Windräder mit einer modernen Radarüberwachung zu versehen. Dann würde die im Volksmund „Uckermark-Disco“ getaufte Anlage nur noch dann  leuchten, wenn sich ein Flugzeug oder Hubschrauber nähern sollte. In der Lokalzeitung machte man sich ein Späßchen aus dieser Firmenmeldung – und produzierte die Überschrift „In Uckerland gehen die Lichter aus“. Auflagensteigernd; und so wahr!
Info: Der ENERTRAG-Windwärmespeicher lässt sich im uckermärkischen Ort Nechlin begutachten und ist über den örtlichen Bahnhof gut ereichbar.

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