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Im Steinbruch der Biografie13.09.2023

Im Steinbruch der Biografie

Text und Foto: Britta Lübbers
Die vielen Titel auf dem Literaturtisch dokumentieren aber eindrücklich seinen Schaffensreichtum. Er arbeite 360 Tage im Jahr, ab sechs Uhr morgens, bekannte er einmal in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung. Wenn er nicht arbeiten könne, habe er schlechte Laune. Als Seismograph des geteilten und dann des wiedervereinigten Deutschlands wird Hein gerne bezeichnet. Er selbst sagt von sich, er sei ein Chronist ohne Botschaft. In einer aufgeladenen Zeit, in der von Literatinnen und Literaten zunehmend Prosa und Lyrik zu aktuellen Debatten, also Bekenntnisliteratur erwartet wird, ist das eine sympathische Haltung. Überhaupt tritt Hein, der einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren ist, angenehm nahbar auf.
Die Lesung Anfang September in Oldenburg ist eine Kooperation der Karl Jaspers-Gesellschaft mit dem Oldenburger Kunstverein, dem Bundesinstitut für die Kultur der Deutschen im östlichen Europa und dem Center für lebenslanges Lernen der Universität Oldenburg. Sie eröffnet die Reihe „Arendt-Forum“. Moderator ist Prof. Dr. Matthias Bormuth vom Institut für Philosophie. Er kündigt Christoph Hein als einen Autor an, der Geschichte nicht aus der Perspektive eines Kollektivs, sondern aus der Sicht des Einzelnen erzählt. Als junger Medizinstudent hatte Bormuth Heins Novelle „Drachenblut“ gelesen, die 1982 unter dem Titel „Der fremde Freund“ in der DDR erschienen war. Der klare, nüchterne Stil habe ihn schon damals fasziniert. „Die Sätze stimmen, Christoph Hein schreibt in einem Deutsch, das auch handwerklich Bestand hat. Sein Werk sucht aktive Leserinnen und Leser.“
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 im schlesischen Heinzendorf geboren, seine Familie floh vor der Roten Armee und zog nach Kriegsende nach Leipzig. Als Sohn eines Pfarrers durfte er nicht auf die Oberschule, ab 1958 besuchte er ein Gymnasiums in Westberlin. Zurück in der DDR arbeitete er als Kellner, Montagearbeiter und Buchhändler. Er studierte, wurde Hausautor der Leipziger Volksbühne. Seit 1979 ist er freiberuflicher Schriftsteller. Hein übte deutliche Kritik an der DDR-Staatsführung, prangerte insbesondere die Zensurpraxis an. Er schrieb (und schreibt) Romane, Erzählungen und Essays, wurde erster gesamtdeutscher Präsident des PEN-Clubs und war bis 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung „Freitag“. Sein neuer Roman „Unterm Staub der Zeit“ schildert die Orientierungssuche eines Jugendlichen, der 1958 von Sachsen auf eine Schule in Westberlin wechselt – der autobiografische Bezug ist unverkennbar. Es geht um Ankommen und Ausgrenzung, um Zugehörigkeit und Fremdsein – Zeitkolorit und Zeitgeschehen inklusive.
„Mich hat das Buch vom ersten Moment gefesselt“, sagt Matthias Bormuth, als Christoph Hein neben ihm Platz nimmt. „Das ist viel zu freundlich, das Buch ist gar nicht so toll“, scherzt der. Hein ist nicht nur ein sehr guter Erzähler, er ist auch ein guter Vorleser. Launig nimmt er das Publikum mit auf eine Reise durch die späten fünfziger Jahre, als Ordnung das halbe Leben war und der Schein das Sein bestimmen sollte. Er erzählt von gewitzten Jungen, die ihre Jobgeber austricksen, von Angebern mit dicken Autos und von einer Internatsspeise, die intern der „Christenverfolgungskäse“ genannt wird. Sein Alter Ego Daniel wurde im Osten als „Paffensohn“ und „Polacke“ verhöhnt. Er hat sich so an das Nicht-dazugehören gewöhnt, dass er Angst vor einer möglichen Zugehörigkeit im Westen hat. Aber die Sorge ist unbegründet. „Was stinkt hier so nach Russenzone?“, ätzt ein Mitschüler. Das ist traurig, und doch wird während der Lesung viel gelacht. Der Roman sei ungeheuer, findet Matthias Bormuth. „Er hat mich direkt in die Schulzeit zurückversetzt.“ In eine Phase großer Ratlosigkeit, in die Ursituation des Jungseins. „In Ihren Büchern ist Verstehen eine Form von Beschreibung ohne kausale Ausdeutung“, hat Bormuth beobachtet. Und Hein stimmt zu. „Ja, ich will meine Figuren verstehen, ich will sie nicht bewerten.“ Er arbeite im Steinbruch seiner eigenen Biografie, fügt er hinzu. „Es gibt keinen Roman von mir, in dem ich nicht vorkomme.“
Christoph Hein hat auch Kinderbücher geschrieben. Zum Abschluss liest er aus dem bezaubernden „Alles, was du brauchst – Die 20 wichtigsten Dinge im Leben.“ Es geht um Freundschaften, um Mütter und – ganz unbeeinflusst von Gender-Debatten und Identitäts-Diskussionen – um ein schönes Kleid für ein Mädchen.

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