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Wochenzeitung DIABOLO:
Der Grünkohlpapst
Reinhard Lühring: Vielfalt fängt im Garten an01.11.2018
text und foto | Joachim Mittelstaedt
Die Vielfalt an Samen, die unsere Ernährung ermöglichen und sichern, nimmt immer mehr ab. Massenhaft verkauft wird nur, was großen Gewinn verspricht und agrarindustriell eingesetzt werden kann. So verschwinden nach und nach immer mehr Sorten und Arten. Das ist nicht nur ein großer Verlust an Geschmacksvielfalt sondern erschwert weltweit die Möglichkeiten unserer Ernährung. Denn: Verschwundene Sorten sind unwiederbringlich.
Seit gut zwanzig Jahren stellt Reinhard Lühring in Rhauderfehn, südliches Ostfriesland, Gemüse-Saatgut nach Naturland-Kriterien her. Er vertreibt das Saatgut über den Versand „Dreschflegel“, einer Gruppe von Menschen, die auf siebzehn Gärtnerhöfen in vielen Bundesländern biologische Saatgutvermehrung und -züchtung von alten Gemüsesorten betreiben. Ein Ziel dabei ist, der immer stärker werdenden Einschränkungen beim Angebot von Gemüse und Kräutern etwas entgegenzusetzen. Denn durch die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und den damit verbundenen Anbau immer weniger Sorten entsteht auf der ganzen Welt ein Verlust, der kaum noch aufzuhalten ist. Verkauft und angebaut wird das, was multinationale Konzerne wie Monsanto oder Bayer, oft gentechnisch verändert, auf den landwirtschaftlichen Markt bringen. Oft können diese industriellen Sorten nicht weitervermehrt werden, sogenannte Hybride. Und die Patentierungen, die die Kartelle für ‚ihre‘ Produkte eintragen lassen, nehmen Bauern und Gärtnern in allen Erdteilen die Verfügung über den Saatgutschatz der Welt aus den Händen. Eine unglaubliche und problematische Konzentration von Macht über das Leben. Dezentralität und Vielfalt sieht anders aus.
Das berücksichtigt Reinhard Lühring. Im Gespräch beschreibt er die Ausgangssituation in Ostfriesland. Hier habe es immer viele Menschen in den Dörfern gegeben, die sich selbst über ihren Hausgarten mit Grünkohl, Bohnen, Erbsen oder Zwiebeln versorgten und über viele Generationen auch ihr eigenes Saatgut herstellten. Die Sorten hätten sich dabei über lange Zeiträume gut an die Region mit ihren spezifischen Bedingungen angepasst. Leider sei aber auch hier die Zahl der eigenen Gärten mit dem Wegsterben älterer Gartenbesitzer in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. In den 90er Jahren habe man dabei einen Tiefpunkt erreicht.
Damit das Wissen um die alten Sorten nicht verloren geht, hat der Gärtner und Landwirt im Jahr 2000 damit begonnen, ‚über die Dörfer zu ziehen‘. Überall konnte man im Frühling beispielsweise üppige Grünkohlsamenträger finden. Und oft, erzählt Lühring, bekam die Tochter hier das Saatgut als Teil ihrer Aussteuer mit. So kamen die Pflanzen weiter von Dorf zu Dorf und manchmal, viele Ostfriesen sind in früheren Jahrhunderten vor der Armut in der Region ausgewandert, auch auf andere Kontinente.
Das Ziel von Lührings Sammelleidenschaft: Den lebendigen Pflanzen-Schatz und das Wissen um ihn zu retten. Auch in den einschlägigen Gen-Banken fänden sich kaum ostfriesische Sorten. Es gehe also darum, diese Kulturen am Leben zu erhalten. So heißt das Projekt, für das sich die Ostfriesen auf Gartentagen, in der Zusammenarbeit mit Naturschutzorganisationen und auf Info-Veranstaltungen stark machen: „Lebendige Erhaltung ostfriesischer Kulturpflanzen“. Inzwischen hat Lühring etwa 220 Herkünfte von Gemüsesorten in 75 Orten gefunden. Der verschollen geglaubte Blaukohl oder die „Ostfriesische Palme“, eine Hochstamm-Grünkohlsorte, die es bis auf eine Höhe von 180 cm schafft, wurden wieder entdeckt. Nun gehe es darum, Menschen zu finden, die diese ‚neuen‘ alten Sorten vermehren und wieder anbauen. Über 100 Hausgärtner sind schon dabei. Säen, ernten, kochen, essen und vermehren heißt das Konzept, das auch bei Saatgutseminaren unter die Menschen gebracht wird.
In einem kleinen Werk- und Arbeitsgebäude neben seinem Wohnhaus verfügt Lühring über einen begehbaren Tank. Dort lagert der große Schatz aller geernteten Samen. Der Raum wird über ein Klima-Aggregat trocken gehalten. Inzwischen, so Lühring hoffnungsfroh, „wird das mit den Gemüsegärten auch wieder etwas mehr“. So könne man auch den Kindern den besonderen Geschmack von alten Sorten und deren Anbau, zum Beispiel des Grünkohls, wieder zeigen.
Überhaupt der Grünkohl. Das Wissen um diese besondere Gemüsesorte hat Reinhard Lühring in der Region längst den Namen „Der Grünkohl-Papst“ eingebracht. Auf einem Acker, direkt an seinem Wohnhaus, stehen 30 verschiedene Sorten davon. Auch die habe er nach und nach in alten Hausgärten gefunden. „Und alle schmecken unterschiedlich“. Allerdings würden nur wenige dieser Grünkohl-Sorten über „Dreschflegel“ verkauft. Das meiste komme über das oben beschriebene Projekt unter die Leute.
Der „Bremer Scheerkohl“ sei übrigens nicht direkt mit dem Grünkohl verwandt. Es ist ein schnellwüchsiger Blattkohl, eine lokale Variante des Rapses. Das Abschneiden der jungen Blätter wird als „scheren“ bezeichnet. Daher der Name. Bis zu den 1960er Jahren war der Scheerkohl ein preiswertes, einfach anzubauendes und sehr populäres Gemüse und gehörte zur Bremer Küchentradition. Dann ist er aus der Mode gekommen. Die Pflanze liebt die geringen Temperaturschwankungen in dieser Region. Starke Fröste mag der Scheerkohl gar nicht. Inzwischen erhält man den Scheerkohl oft wieder auf den Bremer Wochenmärkten.
Kontakt: www.dreschflegel-saatgut.de
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