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Filme im Kino

MoX Kino-Tipps KW 4325.10.2023













Text: Horst E. Wegener


Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
GB ´23: R: Hettie MacDonald. Ab 26.10. Wertung: ***** Foto: Constantin Film Verleih GmbH


Im Leben des wortkargen Rentners Harold Fry Broadbent) spielt sich nurmehr wenig Aufregendes ab. Sein Alltag an der Seite von Ehefrau Maureen (Wilton) verläuft vorhersehbar, beschaulich, eintönig – bis der Mittsechziger Post von einer aus den Augen verlorenen ehemaligen Kollegin und guten Freundin erhält: Eine Art Abschiedsbrief von der im Sterbehospiz auf ihr Ende wartenden Queenie (Bassett). Harold ist zutiefst geschockt. Und wird das Gefühl einfach nicht los, dass es ihm nicht reicht, seinerseits ein paar Zeilen per Post zum gut eintausend Kilometer entfernt liegenden Hospiz auf den Weg zu bringen! Maureen wiederum glaubt ihren Ohren kaum zu trauen, als sie hört, dass ihren Ehemann die Eingebung überkommt, dass er sich doch zu Fuß auf den Weg zur Todkranken machen könnte. Stur wie Harold nun mal ist, wenn ihm eine Idee einleuchtend erscheint, ruft er im Hospiz an, um Queenie zu informieren, dass sie statt zu sterben gefälligst seinen Besuch abwarten solle. Je länger er England durchwandert, desto mehr fühlt sich der Pilger befreit, als jemand der weder Geld noch Handy braucht, unter freiem Himmel schläft, sein bisheriges Leben überdenkt – und Leute kennenlernt. Während der Wandersmann sich lebendig wie lange nicht mehr fühlt, erfüllt er damit auch ein Sehnsuchtsgefühl des Kinopublikums; Cineasten erinnert´s an Filmemacher Werner Herzogs einstige Pilgerreise von  München nach Paris, um die todkranke Filmhistorikerin Lotte Eisner zu erretten. Und natürlich kommt einem der verblüffend ähnlich verlaufende Kinofilm „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ in den Sinn, in dem sich Timothy Spalls auf den Weg machte. Dessen Figur scheint durch Rachel Joyces Romanvorlage zu Hettie MacDonalds Verfilmung von „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ zum Trip quer durch England per Bus inspiriert worden zu sein; wobei beide Filme brillant besetzt sind, poetisch erzählt werden, uns kurzum tief berühren.
D: Jim Broadbent, Penelope Wilton, Earl Cave, Linda Bassett, Daniel Frogsan.




Tori & Lokita
Frankreich/ Belgien ´22: R: Jean-Pierre Dardenne. Ab 26.10. Wertung: **** Bild: Christine Plenus
Dass Flüchtling Tori (Schils) von den belgischen Behörden eine Aufenthaltsgenehmigung zuerkannt wurde, hat das Bürschlein wohl hauptsächlich seiner älteren Freundin Lokita (Mbunder) zu verdanken, die sich als seine Schwester ausgibt, um den Sachbearbeitern zu schildern, wie sie ihren Bruder aus einem Waisenhaus in Benin befreien konnte, wohin man Tori als vorgebliches Hexenkind verbannt habe; nichtsdestotrotz bleibt Lokita trotzdem die eigene Aufenthaltsgenehmigung versagt. Was für die 15-Jährige nichts anderes heißt, als weiterhin aufgrund ihres Illegalen-Status stets die Abschiebung vor Augen zu haben. Ein Restaurantbesitzer, für den Lokita bei mieser Bezahlung schuftet, sich sogar sexuell ausbeuten lassen muss, setzt sie und Tori als Kuriere ein, um Szeneclubs mit Drogenpäckchen zu beliefern. Es bleibt nicht aus, dass das Duo in die Fänge von Mafiosi gerät, die die 15-Jährige in einem Gewächshaus festsetzen, damit sie dort eine Cannabisplantage betreut. Ungewiss, ob Lokita die ihr dafür in Aussicht gestellte Entlohnung ausgezahlt wird. Und wenn ja, dann würden jene Schleuser, die das Mädel nach Europa schmuggelten, auf ihre noch ausstehende Bezahlung pochen – während die 15-Jährige das Geld lieber ihrer in Afrika verbliebenen Familie überweisen möchte.
Die Dardenne-Brüder Luc und Jean-Pierre sind spätestens seit „Rosetta“ für Filme über gnadenlos ausgebeutete Randexistenzen und einen nichts beschönigenden Realismus bekannt. In „Tori & Lokita“ wird uns die beinharte Suche der beiden minderjährigen Jugendlichen, die zwischen Aufnahmeheim, Schleusern und Mafia immerzu gehetzt um ein menschenwürdiges Leben in Europa kämpfen, bewegend näher gebracht. Glaubwürdig besetzt, angemessen hart inszeniert, beklemmend spannend – sehenswert!
D: Pablo Schils, Joely Mbunder, Charlotte De Bruyne, Tigmea Govaerts, Marc Zinga.

Die Theorie von Allem
Deutschland/Schweiz/ Österreich ´23: R: Timm Kröger. Ab 26.10. Wertung: **** Bild: Neue Visionen Filmverleih
Dem jungen Wissenschaftler Johannes Leinert (Bülow) böte ein anno 1962 in den Schweizer Alpen anberaumter Physiker-Kongress die einmalige Chance, der angereisten Fachwelt seine Vielwelten-Theorie vorzustellen. Im Schlepptau des dauergrantelnden Doktorvaters Julis Strathen (Zischler) checkt Leinert im weltentrückten Grandhotel ein, verguckt sich aber vor Ort im Handumdrehen in eine femme fatale mysteriöse Jazzpianistin namens Karin (Ross). Doch dann passiert ein Mord, liegt ein Professor tot im Schnee – was ein Ermittler-Duo Nachforschungen zum Tathergang aufnehmen lässt.  Damit längst nicht genug verschwindet alsbald Leinerts Femme fatale-schöne Pianistin spurlos, entdeckt der verwirrte Doktorand aber zugleich jenen tot geglaubten Prof und beobachtet, wie dieser offenbar quicklebendig im Zimmer der Verschwundenen herumstöbert. Wie kann das denn alles nur sein? Des Rätsels Lösung scheint mit jenem uralten Stollenlabyrinth zusammenzuhängen, das sich in der Nähe des Grandhotels erkunden lässt.
Der in Schwarzweiß gedrehte  Arthaus-Thriller bleibt rätselhaft, bindet Film Noir-Elemente à la Hitchcock, SciFi-Verkopftheit und bittersüße Melodramatik in die farbig inszenierte Klammer einer 1974 stattfindenden Rahmenhandlung sowie in den ergänzenden Epilog mit ein, ohne beim Kinogänger je für Erleuchtung zu sorgen. Für Cinephile kein Problem, das eher mainstream-affine Publikum dürfte übers filmische Ende hinaus ratlos bleiben.
D: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuss, David Bennent, Philippe Graber, Imogen Kogge.

Five Nights at Freddy´s
USA ´23: R: Emma Tammi. Ab 26.10. Wertung: *** Bild: Universal Studios
Den Job als Wachmann hat sich Mike Schmidt (Hutcherson) weniger aufregend vorgestellt. Doch kaum tritt er seine erste Schicht im verlassenen Restaurant an, bekommt es der Nachtwächter auch schon mit den vier Maskottchen von Freddy Fazbear´s Pizza zu tun. Diese vier animatronischen Monster erwachen zum Leben, um jeden zu meucheln, der sich nach Mitternacht im Laden aufhält. Gamern dürfte die Story vom gleichnamigen Erfolgs-Computerspiel her vertraut sein, pünktlich zu Halloween kommt jetzt Emma Tammis Kinoadaption heraus. Ihr Horrorschocker ist vorhersehbar inszeniert und trotzdem nichts für zartbesaitete Feingeister und Mimosen.
D: Josh Hutcherson, Elizabeth Lail, Piper Rubio, Mathew Lillard, Lucas Grant.

One for the Road
Deutschland ´23: R: Markus Goller. Ab 26.10. Vorankündigung Bild: Sony Pictures Entertainment
Souverän meistert Mark (Lau) seinen stressigen Alltag als Bauleiter einer Berliner Großbaustelle, die ihm alkoholselige Geschäftsessen und in der Freizeit ausufernde Streifzüge durch das Nachtleben der Metropole abfordern. Als der Partymensch eines Nachts im Rausch noch sein Auto umparken will, passt ihn eine Polizeistreife ab: Alkoholkontrolle, Führerschein weg, MPU am Hals. Alles easy, behauptet Mark seinem besten Freund Nadim (Yigit) gegenüber – und lässt sich auf dessen Wette ein, dass es ihm dann ja nicht sonderlich schwer fallen sollte, keinen Tropfen Alkohol anzurühren, bis der Lappen wieder da ist. Im MPU-Kurs begegnet Mark Helena (Tschirner), zu der er sich im Nu hingezogen fühlt. So wunderbar es sich anlässt, mal wieder total verknallt zu sein, die eingegangene Wette entpuppt sich für Mark zusehends mehr als steiniger Weg. Wie gibt man vertraute Gewohnheiten auf, gesteht sich die schwerlich zu kaschierende Alkoholabhängigkeit ein? Als Kinogänger fragen wir uns vor allem, wie klamaukig die ernste Thematik angegangen und gelöst wird. Dramödie oder Romanze – ohne Pressevorführung vorab gibt´s Antworten erst ab Ende Oktober, dann für jedermann.
D: Frederick Lau, Nora Tschirner, Burak Yigit, Godehard Giese, Friederike Becht.


Anatomie eines Falles
Frankreich ´23: R: Justine Triet. Ab 2.11. Wertung: ****
 
Als der französische Ehemann (Theis) der erfolgreichen deutschen Schriftstellerin Sandra (Hüller) vor dem gemeinsamen Frankreichdomizil der beiden tot im Schnee liegend gefunden wird, steht schnell die Frage im Raum, ob Samuels Sturz aus der dritten Etage ein Selbstmord gewesen sein könnte oder ob da jemand nachhelfen mochte? So abgeschieden wie das Chalet der Familie in den Bergen gelegen ist, gerät vor allem die Hausherrin unter Mordverdacht. Die gesammelten Indizien belasten Sandra so schwer, dass ihr Anwalt Vincent (Arland) erhebliche Mühe hat, dagegen zu halten. Und diese Ungewissheit, was wahr ist, setzt irgendwann selbst dem elfjährigen Sohn (Graner) der Angeklagten zu, wächst sich im Laufe der Zeit zur Belastungsprobe für alle Beteiligten aus. Vor Gericht spielt dann die mühsame Suche nach belastbaren Fakten und deren Glaubwürdigkeit zusehends mehr eine Rolle, schaltet die eigentlich fließend französisch sprechende Deutsche irgendwann auf Englisch um. Derweil fragt man sich, wie harmonisch die Ehe Sandras mit Samuel war, die als Deutsche ihrem französischen Ehemann immerhin aus Liebe in dessen Land folgte? Ein von Samuel heimlich auf Tonband aufgenommener Streit mit der besseren Hälfte wird zwar von der Staatsanwaltschaft präsentiert, entpuppt sich aber bei intensiverem Nachdenken als nicht ganz so eindeutig belegbar wie ursprünglich erhofft. Auch die Frage nach Samuels Autounfall in Verbindung mit seiner Schuld an der fast-Erblindung ihres gemeinsamen Sohnes Daniel und Sandras mittlerweile bekundeter Vergebung, wird hinterfragt. Und obwohl der Film weitestgehend im Gerichtssaal in Szene gesetzt wird, hat Regisseurin Justine Triet kein konventionelles Kammerspieldrama im Sinn. Die Frage, ob Sandra ihren Mann umgebracht hat oder nicht, quält das Kinopublikum über die zweieinhalbstündige Spielzeit von „Anatomie eines Falles“ hinweg. Dass dies nicht negativ gemeint ist, hängt mit den schauspielerischen Leistungen der gesamten Besetzung (allen vorweg Sandra Hüllers Bravoura-Performance) zusammen, die uns übern filmischen Abspann hinaus rätseln lassen. In Cannes bekam Triets Thrillerdrama in diesem Frühjahr verdientermaßen die Goldene Palme zuerkannt.
D: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth.

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