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Laufsteg ins Gezeitenland03.07.2022









Seit der Vordeich im Jahr 2014 zum Meer hin geöffnet wurde, kehrt hier ein großartiges Stück Natur zurück: Die Salzwiese – Neptuns „Vorgarten“ und Hotspot der Artenvielfalt! Auch Besucher können diesem Biotop sprichwörtlich beim Wachsen zusehen. Ein einzigartiger Laufsteg führt bei Ebbe und Flut direkt ins Neuland der Gezeiten.  

Jetzt, am frühen Morgen, sind erst wenige Spaziergänger unterwegs. Für mich eine gute Gelegenheit, die Rangerin auf ihrer Tour zu begleiten. Blaue Dienstjacke, Käppi und Pferdeschwanz – das muss sie sein! Seit fünf Jahren gehört die 47jährige zu den „freundlichen Gesichtern des Nationalparks vor Ort.“ Ihr Gebiet umfasst die gesamte Festlandküste rund um Butjadingen. Und es gibt viel zu tun. Von Kontrollgängen und Monitoring über Biotop- und Artenschutz bis hin zu Führungen und Öffentlichkeitsarbeit. Das Projekt Langwarder Groden, so erklärt sie mir, sei eine Ausgleichsmaßnahme für den Bau des Jade-Weser-Ports.  Ziel ist die Renaturierung von Salzwiesen auf einer Fläche von mehr als 140 Hektar.    

Spannender Wandel    

Wir starten unseren Rundgang am Langwarder Hauptdeich. Hier, im höher gelegenen Bereich des Grodens, wird noch extensive Weidehaltung betrieben. Doch je weiter wir ins Schutzgebiet vordringen, desto deutlicher wird der Einfluss von Ebbe und Flut. Die Grünflächen sind von Pütten und Wasserrinnen durchzogen. Wo eben noch Süßgräser überwogen, entdecken wir jetzt typische Salzwiesenpflanzen, wie die Strandmelde, das Andelgras oder den Portulak. Dazwischen blüht der Strandflieder, violette Inseln, wunderschön. Wer genau hinschaut, sieht die feinen Salzkristalle an den Blättern. Die Überdosis Salz werde von der Pflanze aktiv über Drüsen ausgeschieden, bemerkt  die Rangerin. Jedes Lebewesen hier habe seine eigene Strategie, um mit dem salzigen Element zurecht zu kommen. So auch das große Volk der Insekten. Darunter echte Spezialisten wie der Prächtige Salzkäfer oder Arten, die so schräge Namen tragen wie die Meerstrandwegerichgallrüsselkäferschlupfwespe.  

„Es war total spannend, den Wandel zu beobachten“, begeistert sich Koschel, die alles genau dokumentiert, „bereits ein Jahr nach der Deichöffnung hatten wir hier ganz klassische Meeresökosysteme.“ Typische Meeresbodenbewohner stellten sich ein, der so genannte „Benthos“. Ein gefundenes Fressen auch für die zahlreichen Watt- und Wiesenvögel, die an den Wasserrändern nach Nahrung suchen. Nicht umsonst gilt der Langwarder Groden inzwischen als Hotspot für „Vogelgucker“. Hier brüten jetzt Austernfischer, der Große Brachvogel, Rotschenkel, Wiesenpieper, Kiebitz und Uferschnepfe. Sogar den seltenen Kampfläufer und die Sumpohreule habe sie schon gesehen, erzählt die Naturschützerin. Ganz zu schweigen von den großen Zugvogel-Trupps, die im Herbst und Frühjahr auf den Salzwiesen rasten.  

Lebende Salzstangen    

Inzwischen sind wir am wohl spektakulärsten Teil des Entdeckerpfades angekommen. Ein 400 Meter langer Bohlenweg schwingt sich vom Prieltief hinüber bis zum Vordeich. „Bei Flut steigt das Wasser fast bis zur Oberkante des Weges“, erfahre ich. Tolle Vorstellung, über das Wasser zu laufen.  Doch auch jetzt, bei Niedrigwasser, bieten sich faszinierende Einblicke und Perspektiven. Direkt unter unseren Füßen tut sich das rohe Watt, der Meeresboden, auf. Seidig glänzt der Schlick in der Sonne, kleine und große Wasseradern zeichnen fantastische Linien ins Watt. Grüne Queller, die Pioniere der Verlandungszone, erobern das Areal. „Probieren Sie mal!“ Ich knipse mit den Fingern ein Stückchen ab. Hm, knackig und salzig, gar nicht so schlecht. „Kinder nennen den Queller auch lebende Salzstange“, die Rangerin schmunzelt. Soll auch super als Salatbeilage schmecken.

Jetzt geht es über den Hauptpriel. Bei Hochwasser ein reißender Strom. Meterdicke Abbruchkanten zeugen von der Kraft der Naturgewalten. Auf der 35 Meter langen Brücke warnt ein Schild davor, hier besser nicht ins Wasser zu fallen. Das könnte selbst guten Schwimmern gefährlich werden.
Drüben, auf dem Vordeich, dann ein herrlicher Blick über das streng geschützte Vorland, die Außenweser und das Wattenmeer. Ein Schiff fährt vorüber. Vielleicht auf dem Weg nach Bremerhaven. „Soll ich Ihnen mal meinen Lieblingsplatz zeigen?“ Aber gern! Meine Begleiterin stapft auf der Deichkrone voraus, bis es nicht mehr weiter geht. „Wegende“ steht auf einer schlichten Holzbank. Genau hier ist die Lücke im Deich, durch die der Außenpriel sich seinen Weg in den Groden bahnt. Einfach mal hinsetzen, zur Ruhe kommen und der Tide beim Kommen und Gehen zuschauen …  

Seehunde und Austernfischer  

Es wird Zeit für den Rückweg. Langsam läuft die Flut wieder auf. Die Priele füllen sich, der Wasserpegel am Bohlenweg steigt. Bald schon wird er die untere Verlandungszone bedecken. Und dann erwartet uns noch eine echte Überraschung: Da sonnt sich doch  tatsächlich ein Seehund im Schlick! Auch andere Besucher haben ihn entdeckt  und zücken ihre Smartphone-Kameras. „Ist der echt?“ fragt ein kleines Mädchen. Die Rangerin nickt. Gar nicht so selten, dass die knopfäugigen Meeresbewohner in den Groden kommen.

Wir blicken noch mal zurück. Diese Ruhe. Diese Weite. Ein leichter Wind streicht über die glitzernde Ebene. Zwei Austernfischer stochern im Schlick nach Muscheln. Und sitzt dort nicht ein Rotschenkel, der Charaktervogel des Grodens? Im Grunde seien die Kompensationsziele bereits erreicht, stellt die Rangerin zufrieden fest. Das Meer hat sein ureigenes Terrain zurückerobert. Die Salzwiese breitet sich aus. Ein Geschenk für die Natur. Und alle Menschen, die in dieser grandiosen Zwischenwelt auf Entdeckungsreise gehen.

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