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Diversität ist mehr als nur Vielfalt21.02.2022

Text: Martina Burandt
Was bedeutet uns unser Körper in diesem für jedes Individuum begrenzten Lebenslauf? Was tun und was denken wir, wenn unser Körper nicht (mehr) den  allgemeinen Standards entspricht oder wenn er plötzlich nicht mehr so funktionieren will  wie gewohnt? Was bedeutet das alles für Tänzer und Tänzerinnen, für die der Körper das Instrument Nummer Eins für die tägliche Arbeit ist? Und wie, schließlich, bringen  wir körperliche Fähigkeiten und Grenzen in einer heterogenen Gemeinschaft zusammen? Auf den Tanz bezogen: Wie finden wir zu einer gemeinsamen Sprache und Ästhetik?
Die vielfach ausgezeichnete Choreografin Adrienn Hód gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen des zeitgenössischen Tanzes in Ungarn. Spielerisch und oft provozierend sucht sie in ihren Produktionen immer wieder nach neuen tänzerischen wie dramaturgischen Formen.
Auf intensive, eindringliche Art und Weise geht das elfköpfige Ensemble den vielschichtigen Fragen um Normalität und Diversität nach. Im Vordergrund der Bühne steht eine Ballettstange, an der die Künstlerin Yanel Barbeito versucht, die Etüden nachzutanzen, die von einem Video auf einem Laptopbildschirm angesagt werden. Die Bewegungen der Tänzerin mit dem dunklen Haar und dem vollen Pony sind wackelig-verkrampft und geben ein ganz anderes Bild wieder, als wir gewohnt sind.
Hinter ihr, überall auf der Bühne verteilt, sehen wir Tänzer*innen-Duos, die zunächst gegenseitig ihre Körper aufwärmen. Davon ausgehend beginnen kleine Duos. Dazu gibt es keine Musik. Die Flut an ungewohnten Bildern einer Körperlichkeit, die auch den  zeitgenössischen Tanz auf eigenwillige Weise neu ausformt, bietet schon allein  den Augen der Zuschauenden genug an Sinneseindrücken. Zunächst ganz still und in einer ausgedehnten Langsamkeit beginnt das Ensemble aus behinderten und nichtbehinderten Tänzer*innen ein Spiel mit Formen, Geschichten und Neuerzählungen unserer gewohnten Vorstellungen von Körper sowie der Kunstform Tanz.
Da ist Nora Runge, die mit dem gehbehinderten Florent Devlesaver Bewegungen und Figuren mit und auf seinem Rollstuhl versucht. Da lassen Gabrio Gabrielli und Tamara Rettenmund, die gemeinsam am Bühnenrand liegen, ihre anfänglichen Körpererkundungen in eine Kontaktimprovisation übergehen, die in ihrer Langsamkeit etwas Zärtliches vermittelt. Erst später wird sich Rettenmund mit Gabriellos Hilfe mühsam in den Stand bewegen. Mit ihren Gehstöcken wirken ihre Bewegungen wie die eines Insektes.
Anders dagegen die kraftvolle Erscheinung der kleinwüchsigen, australischen Tänzerin Leisa Prowd, die zusammen mit Andor Rusu erstaunliche Körperbilder erschafft. Dazwischen, in mehr und mehr wechselnden Solos und Duos, der afroamerikanische Aaaron Samuel Davis mit seinem – nach herkömmlichen Denken – idealtypisch ausgebildeten Tänzerkörper und die Tänzerinnen Young-Won Song und Paulina Porwollik.
Und wer glaubt, hier würden einfach nur menschliche Kuriositäten, aufgesetztes Mitgefühl oder etwa eine angesagte  gesellschaftliche Forderung nach Diversität und Teilhabe vorgeführt, der irrt. Allesamt – ob behindert oder nicht – beschreiben einen künstlerischen Werdegang, der vor allem auf ein persönliches Interesse beruht und nicht allein auf eine (sozial-)therapeutische Heranführung an den Tanz.
Ganz behutsam führt die Dramaturgie (Gregor Runge) das Publikum, zusammen mit dem Ensemble, von der anfänglichen Stille, über einen zunehmend stärker werdenden Rhythmus zu einem großen Ganzen zusammen. „Harmonia“ wird zu einem Gleichklang, zu einem in Vielfalt pulsierenden Körper. Und da vermischen sich plötzlich Bewegungen, Körper und Persönlichkeiten und ein perfekter Körper erscheint auf einmal viel zu muskulös, oder zu dünn oder erstaunlich alt.
Und am Ende wird in einem dritten Teil die Frage danach, was eigentlich „normal“ ist, noch einmal neu gestellt und erweist sich in kaum enden wollenden euphorischen Solos aller als völlig irrelevant. Zur Club-Musik zeigen alle, was sie „drauf haben“ und das ist in der Summe der Einzigartigkeit jeder Tänzer*innen-Persönlichkeit ein „perfektes Ganzes“.
Adrienn Hód spielt in „Harmonia“, wie bereits in ihrer letzten Bremer Produktion „Coexist“, mit gesellschaftlichen Tabus und künstlerischen Normen von Schönheit und Ästhetik und erschafft eine aufrüttelnde, manchmal provozierende eigene Harmonie aus verstörend schönen Bildern. Diversität ist hier mehr als nur Vielfalt, sondern betrachtet die Komplexität und den Alltag von Menschen in ihrer jeweiligen Lebenslage und fordert das Publikum heraus, eigene Bewertungen und Wahrnehmungen zu überdenken. Ein mutiges Stück!

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