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Ein richtig guter Erzähler: Jochen Schimmang erhält den Walter Kempowski Preis09.01.2020
Text | Britta Lübbers
Foto: Eric Wolfe
Mehr als 20 Bücher hat Jochen Schimmang veröffentlicht, auch Hörspiele, Essays und Übersetzungen. „Ja, aber in einem Zeitraum von rund 40 Jahren, das ist nicht übermäßig viel“, sagt er beim Gespräch in einem Oldenburger Café und bestellt sich einen Kakao ohne Sahne. Ein solches Getränk ordert auch die Ich-Figur in Schimmangs aktuellem Erzählband „Adorno wohnt hier nicht mehr“. Diese Erzählungen – und noch stärker die literarischen Geländegänge in „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“ – nehmen die Lesenden mit auf einen Streifzug durch die jüngere Geschichte des Landes, das Schimmang nicht Heimat nennen mag („mit Heimat habe ich es nicht so“); sie führen von den 1940er Jahren in die Gegenwart und wieder zurück, sie spielen in Metropolen und der weiten Landschaft des Rheiderlands, sie geben Einblick in Lebensgeschichten, die unschwer auch als jene des Autors zu erkennen sind. Eines Autors, der eine seiner Künstler-Figuren sagen lässt: „Werk – ein Begriff, der mir sofort Brechreiz verursacht.“
Jochen Schimmang legt an diesem regnerischen Nachmittag die Milchhaut seines Kakaos sorgsam auf der Untertasse ab und beantwortet mit feinem Sprachwitz und erstaunlich offen die Fragen, die ihm gestellt werden. Es gibt kein vermintes Gelände, Grenzen ja, aber auch die sind nicht zwingend ein Hindernis. „Jochen Schimmang mag Grenzen – und sei es nur, um sie zu überschreiten“, betonte Kathrin Dittmer in ihrer Würdigung und wies darauf hin, dass der Kempowski-Preisträger bereits als Kind mit dem Dreirad in Richtung Harz aufgebrochen war.
Geboren wurde Jochen Schimmang 1948 in Northeim, das im zweigeteilten Deutschland noch als Zonenrandgebiet galt. Glücklicherweise sei die Familie dann fortgezogen, schreibt er in „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“, sonst hätte er nach dem Mauerfall in der Neuen Mitte leben müssen. Und was wäre daran schlimm gewesen? „Dort gibt es viel Gedränge“, lächelt er. „Politisch möchten ja alle die Neue Mitte bilden, auch die AfD.“
Die Familie zieht also weg und richtet sich in nördlicher Randlage ein, Jochen Schimmang wächst in Leer auf. Er kommt aus einfachen Verhältnissen. Sein Opa war Tischler, sein Vater, der im Krieg einen Arm verlor, brachte es ohne Studium zum Stadtkämmerer. „Er war ein Aufsteiger, deshalb konnte ich das nicht mehr werden.“ Er schmunzelt. Ein bisschen Understatement ist das schon. Der junge Schimmang wird zunächst Chef einer Schülerzeitung. 1965, auf einem Treffen der Jungen Presse Niedersachsen, lernt er den scharfzüngigen Stefan Aust kennen, begeistert sich für die Musik der Beatles und ist – wie alle Schülerzeitungsvertreter dort – überzeugt, „dass wir bedeutende Autoren oder sonst irgendwie Künstler werden würden“. Jahre später wird er sein erstes Manuskript, das er in einer Plastiktüte von „Kaiser‘s Kaffee“ transportiert, beim Suhrkamp Verlag abgeben. Und es wird tatsächlich gedruckt werden. Mit „Der schöne Vogel Phönix“ veröffentlicht er 1979 einen Roman, der in westdeutschen Wohngemeinschaften von Hand zu Hand geht und heute als Kultbuch gilt – eine Bezeichnung, die Schimmang nicht besonders mag. Er sei lange an diesem Erstling gemessen worden, erzählt er. Seine Leserschaft habe als Nachfolge-Roman etwas Ähnliches erwartet, aber Schimmang schlug in „Das Ende der Berührbarkeit“ einen anderen, kühleren Ton an.
Der Sound im „Phönix“ changiert zwischen Melancholie und Lässigkeit, es ist ein Sound, der noch heute anklingt. Die Melancholie durchziehe sein Leben, bekennt Schimmang. Auch das Pessimistische, das er mit entspanntem Witz zu handeln weiß, und das er während seiner Jahre in Berlin, wo er von 1969 bis 1974 Politik und Philosophie studierte, oft hatte kaschieren müssen. Jochen Schimmang war Mitglied „kryptokommunistischer Gruppen“ – und Kommunismus und Pessimismus vertrugen sich nicht. „Es hätte aber noch schlimmer kommen können“, sagt er in der Rückschau. „Ich hätte Mitglied der Bewegung 2. Juni werden können, es hätte alles Mögliche passieren können.“ Was passierte war, dass er Berlin verließ, in Tübingen seine Diplomarbeit schrieb und seine Berliner Erfahrungen im „Phönix“ verarbeitete. Die siebziger Jahre mit ihrem RAF-Terrorismus und die darauf folgende Paranoia des Staates, die sich auf das Volk übertrug, empfindet er rückblickend als „bleierne Zeit“.
Jochen Schimmang wohnte später in Hamburg, Wiesbaden, Bochum und Paris. Rund 15 Jahre arbeitete er als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Er sei zunächst kaum für den Job qualifiziert gewesen, erklärt er. „Aber der Bedarf an Lehrkräften war derart hoch, ich hätte auch ein Kapitänspatent vorlegen können, man hätte mich genommen.“ Nun hatte er einen Brotberuf und schrieb parallel dazu seine fünf ersten Bücher. Dann wagte er den Sprung in die Selbstständigkeit. Heute ist er einer der namhaften deutschsprachigen Schriftsteller. „Namhaft zu sein, das heißt nicht viel“, lächelt er. Denn finanziell habe es nicht immer gereicht. Auch deshalb habe ihn der mit 20.000 Euro dotierte Walter Kempowski Preis sehr gefreut.
Die Kritik hat ihn einmal als „Chronisten des Verschwindens“ bezeichnet, und auch Kathrin Dittmer betonte in ihrer Laudatio, dass Schimmang seine Protagonisten gerne aus ihren realen Verhältnissen entlässt. „Wenn fühlbar ist, dass es kein richtiges Leben für sie im falschen gibt. Diesen Luxus gönnt er seinen Flaneuren, politisch bewussten Einzelgängern und Liebenden.“ Und der Geehrte, der in seiner Dankesrede über den Zusammenhang zwischen Erleben, Erzählen und Erinnern sprach, verwies in Hannover ebenfalls auf Verschwundenes, darunter ein kleines Rumpsteak mit Champions auf Toast, das den Namen „Toast Mozart“ trug und irgendwann von der Speisekarte der Deutschen Bahn eliminiert wurde. Er würde gerne wissen, was sich da zugetragen habe, bekannte Schimmang, „und welcher Wahnsinnsknabe – es war bestimmt ein Knabe und keine Frau – auf den Gedanken gekommen ist, das Gericht nach Amadeus zu benennen, der doch schon an den berühmten Mozartkugeln genug zu schlucken hatte.“ Wer immer ihm bei beiden Fragen behilflich sein könne: „Mein Notizbuch ist bereit.“
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