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Verloren in unsicheren Welten30.05.2022



Text: Martina Burandt
Als Ausgangspunkt für ihre Choreografie ORT bestimmen die beiden Choreografen von Kor’sia einen „Nicht-Ort“. Mit „Nicht-Orten“ meinen sie die, in denen Menschen meist in Anonymität verharren; wie U-Bahnhöfe, Parkhäuser, Autobahnen, Tankstellen.
Wie Spotlights sehen wir solche Orte am Anfang des Stückes. Nur kurz ist der jeweilige Einblick, bevor ein neues Bild, schnappschussartig mit anderen Personenkonstellationen im Licht aufblitzt. Wie in kurzen Filmauschnitten entwickeln sich daraus im Weiteren Bewegungen und unterschiedliche Geschichten. Der Sound dazu ist eine Mischung aus Techno und arabischen Anklängen, dann wieder eher Soundcollage.

Ausgehend von Alltagsszenen, klettern plötzlich Menschen über andere, kommen zusammen und entfernen sich. Da wird aus einem Streetdance ein Spiel, ein Kampf. Da wird aus einem ungleichen Paar, das scheinbar teilnahmslos an einer Haltestelle sitzt, ein Liebespaar das sich umschlingt, sich hebt und hält, dann aber, aus einer erotischen Umklammerung heraus,  miteinander ringt, bis es am Ende wieder auseinanderfällt, zurück in die Ausgangssituation. Das ist dann wie ein verrückter Traum oder ein Gedankenspiel.


Die choreografischen Bilder und das  Bewegungsrepertoire sind ungewöhnlich neu für das, was man von Of Curious Nature gewohnt ist. Schnell wechseln die Positionen und Haltungen, sei es im Solo oder in der Gruppe. Dabei erscheint alles spielerisch leicht, wunderbar im Fluss.
Kor’sia setzt in den Bewegungen der einzelnen Tänzer*innen oft unterschiedliche Geschwindigkeiten in Kontrast. Zu einer Musik tanzen die einen den raschen Rhythmus und andere die fließende Melodie darunter wie in Zeitlupe. Es ist so, als würden unterschiedliche Realitäten in einem Bild sichtbar. Das ist ästhetisch spannend, mit einem coolen drive, wobei die inhaltlichen Aussagen dahinter manchmal verblassen.


Die zweite Choreografie dieses Abends UN-ZEIT von Helge Letonja zeigt sich von Anfang an ganz anders. Dunkel ist der Bühnenraum als die gewaltige Musik, die Symphonie No.4 von Henryk Górecki, einsetzt. Der Rhythmus, wie ein Läuten von Kirchturmglocken, wird von den immer lauter einsetzenden Paukenschlägen übernommen. Irgendwann hört man sie wie Kanonenschläge. Als das Licht einsetzt, erscheint tanzend aus einer Nebelschwade eine Person. Ihre Arme bewegen sich windend, kämpfend, dann wieder gerade, lang und geometrisch wie die Zeiger einer Uhr, in einer ZeiT, die abzulaufen droht.

Góreckis Musik ist so kraftvoll, dass es schwer ist, sich ihrer Dominanz zu entziehen. Und so ist dem Ensemble eine  große Ausdrucksstärke abzugewinnen, ihr einen Kontrapunkt zu setzen. Wenn die Ensembleleistung auch in „UN-ZEIT“ groß ist, so gelingt dies nicht immer. Denn die Musik, zusammen mit dem recht dunkel gehaltenen Bühnenlicht, gibt eine übermächtige  Endzeitstimmung. Da vermischt sich die zeitgenössische Tanzsprache mit der aktuellen Kriegsberichterstattung aus Medienbildern wie von selbst.

Doch das tut der Choreografie, die während des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine entstand ist, keinen Abbruch. Vielmehr geht sie in Szenenbildern und körperlichem Ausdruck tief hinein in die Seelenlandschaft von Individuen und Gruppen in Zeiten, in denen unsere menschliche Existenz immer mehr bedroht ist. Letonjas Choreografie zeigt all dies nie plakativ oder Zeigefinger erhebend. Vielmehr sind  körperliche und mimische Umsetzung in Solos, Duos und Gruppenchoreografien immer authentisch und nahe gehend.  

Viele Bewegungen in UN-ZEIT gehen von den Armen aus. Wir sehen ihr Zucken, ihr verzweifeltes Rudern, ihr Schlagen, Kämpfen und Freikämpfen, ihr Fassen und Umfassen, ihr Tragen, ihr Halten, ihr Greifen ins Nichts. Wir sehen Menschen sich weit öffnen und hilflos wieder zurückziehen, kauern. Wir sehen stumme Schreie mit weitaufgerissenen Mündern und Augen.
Eine Frau steht auf dem Brustkorb eines Mannes, wie auf einem sinkenden Schiff. Gruppenchoreografien erscheinen rhythmisch stampfend, von der Musik weitergetrieben wie Maschinen, bevor sie sich wieder im Rauch auflösen. Manche(r) bleibt liegen, andere werden mit- oder weitergezogen und wieder andere bauen sich in pulsierenden Heldenposen auf. Vielschichtig ist Letonjas Blick auf eine Weltlage, in der der Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht ist und Vertrauen wie Gemeinsinn überall auseinanderzufallen droht.

Und so setzt diese dynamische Choreografie mit Musik und Bewegungsbildern bewusst eine Dramatik ein, die unserer aktuellen Zeit-Wende  entspricht. Wie Atome ziehen sich die Tänzer und Tänzerinnen immer wieder an, um sich in ähnlichem Tempo und Intensität wieder voneinander abzustoßen. Gebilde formen sich und fallen wieder auseinander. Und auch bei UN-ZEIT bewegen sich die  Gruppenchoreografien in einem schnellen Fluss und Gleichklang, der fasziniert.

ORT und UN-ZEIT gehen gesellschaftlichen Fragen in unserer von Klimawandel, Pandemie und Kriegen geprägten Zeit nach. Dabei dreht es sich stets darum, wie sich Individuen und Gesellschaft innerhalb dieser existentiellen Veränderungen verhalten. Dafür finden beide Choreografien ihre eigene Sprache. Es ist faszinierend, wie die Kompanie Of Curious Nature dies, in einer deutlich voneinander unterscheidbaren, facettenreichen Körperästhetik umsetzt. Sie zeigt hier auf neue Weise, inwieweit sie sich, seit ihrer Gründung 2019, eine inspirierende, ebenso feinsinnige wie kraftvolle  Identität erarbeitet hat, diesmal auch in der Zusammenarbeit mit den spanischen Choreografie-Stars Kor’sia. Wie es bei Kor’sia im Proramm steht: An jedem neuen Ort entstehen neue Kontexte, neue Fragen und neue Blickwinkel – die einzigen Möglichkeiten für Veränderungen in der Welt.

Foto: KeithChin.




Weitere Spieltermine: SA 28.05. + SO 29.05.2022
Wiederaufnahme im September 2022 geplant
Weitere Infos unter:
www.of-curious-nature.de

www.kor-sia.com


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